Halbherziger Kampf gegen die Kalte Progression

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Ab dem Jahr 2023 will die Ampel die so genannte „Kalte Progression“ ausgleichen und damit nach eigenen Angaben auf Steuer-Mehreinnahmen von rund 14 Milliarden Euro verzichten. Toll. Sollen wir jetzt niederknien angesichts dieser grandiosen und großherzigen Geste aus Berlin? Wohl eher nicht. Denn erstens hat die Kalte Progression schon in diesem Jahr die Steuerzahler stärker bluten lassen, und dafür hat sich die Politik keinen Ausgleich ausgedacht. Zudem ist die Kalte Progression ein permanentes Übel, solange Inflation und nominale Einkommen weiter steigen und die progressiven Tarife bei der Einkommenssteuer nicht regelmäßig angepasst werden.  Besser wäre ein „Tarif auf Rädern“, der sich automatisch an die Lohn- und Preisentwicklung anpasst.  Die Schweiz, die Vereinigten Staaten, Schweden oder Frankreich machen das. Warum wir nicht?

Leute, ich werde das Gefühl nicht los, dass es da draußen jede Menge Trittbrettfahrer gibt, die sich an die Inflation dranhängen und ihre Preise ehöhen, obwohl sie keine gestiegenen Kosten haben. Kann ein Uhrenhändler, der vor vier Jahren seine Armbänder für 9,90 Euro eingekauft und sie bislang für 29 bis 49 Euro verkauft hat, plötzlich 79 Euro verlangen und jammern, dass die Transport- und Energiepreise so rasant gestiegen sind?

Ja er kann offenbar, obwohl es vor vier Jahren keine Energiekrise gab und es deshalb keine sachliche Begründung für seine Preistreiberei gibt. Er gehört damit zu jener Spezies, die die Inflation erst so richtig anheizen und selbst davon profitieren. Und es gibt noch jemanden, der von der Inflation profitiert: Der Staat. Der hat es nämlich überhaupt nicht eilig, etwas gegen die Inflation zu unternehmen, weil sie mehr Steuern in seine Kassen spült.

Immerhin: Ab dem Jahr 2023 will die Ampel diese so genannte „Kalte Progression“ ausgleichen. Damit ist ein Phänomen gemeint, das den Staat durch Nichtstun immer reicher macht. Angenommen, es herrschen in einer Volkswirtschaft fünf Prozent Inflation und die Gewerkschaften haben durchschnittlich fünf Prozent mehr Lohn für alle durchsetzen können – dann hat sich bei den Arbeitnehmern in Bezug auf die Kaufkraft nichts geändert.  Wohl aber das nominale Einkommen. Das ist gestiegen – was bewirkt, dass real konstante Einkommen mit der Zeit in höhere Regionen des Einkommensteuertarifs rutschen und stärker belastet werden.  Außerdem steigt auch die gesamtwirtschaftliche Steuerquote (Steuereinnahmen als Anteil am Bruttoinlandsprodukt) automatisch.

Ab 2023 will die Ampel also für einen Ausgleich sorgen – doch für das Jahr 2022 zahlen  die Steuerzahler bereits jetzt drauf, ohne dass es einen Ausgleich gibt. Das haben Berechnungen des arbeitgebernahen  Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln ergeben. Ein Single mit einem Monatseinkommen von 3.000 Euro wird dadurch um etwa 238 Euro belastet. Um diese Mehrbelastung auszugleichen, greift ab Januar das Inflationsausgleichsgesetz – aber eben erst nächstes Jahr. Darin steht, dass der Staat im Jahr 2023 auf Steuereinnahmen in Höhe von 14 Milliarden Euro durch die kalte Progression verzichtet. Was das für jeden einzelnen bedeutet, hat das IW in einer neuen Studie ausgerechnet.

Wie gesagt: Die Mehreinnahmen durch die kalte Progression, die bereits im Laufe des Jahres 2022 entstehen, gleicht der Staat nicht aus. Und weil die Entlastung im kommenden Jahr nur in Höhe der diesjährigen Belastung ausfällt, verschleppt der Staat den Ausgleich der kalten Progression und sorgt trotzdem jährlich für Mehreinnahmen. „Es gibt sogar Forderungen, die kalte Progression als alternative Finanzierungsmöglichkeit für die Entlastungspakete einzusetzen“, heißt es in einer Pressemitteilung des IW. Und: „Das wäre eine Steuererhöhung durch die Hintertür, die nicht demokratisch legitimiert ist.“

Unter Ökonomen gilt die Kalte Progression deshalb als heimliche Steuererhöhung mit negativen Auswirkungen für Arbeitsanreize. Die Verschiebungen der Steuerlastverteilung und die Ausweitung der Steuerquote sind Automatismen, die sich der demokratischen Kontrolle entziehen. Deshalb ist es aus systematischer Sicht richtig, die Kalte Progression auszugleichen.

Der einfachste Weg, der Kalten Progression zu begegnen, liegt in der Einrichtung eines „Tarifs auf Rädern“, schreibt das IW. Hierbei werden die nominalen Eckwerte des Einkommensteuertarifs automatisch an die Preisentwicklung angepasst. Ein Tarif auf Rädern könnte sicherstellen, dass bei konstanten realen Bruttoeinkommen die reale Steuerbelastung gleich bleibt. Mehrere Länder wie die Schweiz, die Vereinigten Staaten, Schweden oder Frankreich praktizieren das bereits.

Ein Beispiel für variable Tarife sind die Beitragsbemessungsgrenzen für die Sozialversicherungsbeiträge, die sich der Brottolohnentwicklung anpassen. Bei der Einkommensteuer wenden Länder wie die Schweiz, die Vereinigten Staaten, Schweden oder Frankreich diese Methode bereits an. „Mit dem Tarif auf Rädern kann der Staat die Verschiebung der gesellschaftlichen Steuerlast stoppen. Es gibt keinen Grund, sie nicht auch in Deutschland einzuführen“, sagt IW-Ökonom Martin Beznoska. „Bei der derzeit hohen Inflationsrate nimmt der Staat besonders viel zusätzliche Steuern ein.“

Raus aus der Schnarchphase

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Das ist schon ein recht ungewöhnlicher Schulterschluss, doch diesmal sind sich Arbeitgeber und Gewerkschaften einig: Die Regierung macht nach ihrer Auffassung zu wenig für die Zukunft. Sie fordern vehement mehr Investitionen in Infrastruktur und Bildung. Die Frage ist nur, ob die Öffentliche Hand überhaupt noch das nötige Personal hat, um das Geld für Zukunftsinvestitionen sinnvoll auszugeben. 

Deutschland sollte in den nächsten zehn Jahren zusätzlich mehr als 450 Milliarden Euro investieren, um seine Infrastruktur und sein Bildungssystem zu modernisieren, fordern Arbeitgeber und der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB seit dem heutigen Montag (18.11.2019) in seltener Einigkeit. Die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse stellen sie dabei ebenso in Frage wie die noch auf Jahre von der Regierung angestrebte Schwarze Null im Haushalt. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Olaf Scholz bleiben allerdings stur. Sie sagen, die Investitionen lägen bereits auf Rekordniveau.

„Deutschland muss aus der Schnarchphase rauskommen“, sagte der Präsident des Industrieverbandes BDI, Dieter Kempf, in Berlin. Es müsse ganz neu gedacht und diskutiert werden. Es gebe die echte Sorge, dass die Regierung zu wenig mache. Der Vorsitzende des DGB, Reiner Hoffmann, erwartet, dass die große Koalition dazu in der zweiten Hälfte ihrer Amtszeit dazu klare Ansagen macht. Beide verwiesen darauf, dass es für große Bauvorhaben eine effizientere Planung und schnellere Genehmigungsverfahren geben müsse.

Merkel verteidigte die Schwarze Null, obwohl Deutschland zuletzt nur knapp an einer Rezession vorbeigeschrammt ist. Finanzminister Scholz sagte, in den nächsten zehn Jahren seien Investitionen von zusammen weit über 400 Milliarden Euro geplant. Das Klimaschutzpaket bringe weitere 150 Milliarden Euro. Deshalb sehe er die Forderungen von Gewerkschaften und Industrie eher als Unterstützung seiner ohnehin schon expansiven Finanzpolitik.

Sebastian Dullien, der Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans Böckler-Stiftung, ist überzeugt, dass der Staat ganze zwei Jahrzehnte zu wenig investiert hat. Im nächsten Jahrzehnt müssten 138 Milliarden Euro eingesetzt werden, um den Investitionsstau der oft klammen Kommunen abzubauen – eine Summe, die auch der Deutsche Städtetag und die staatliche Förderbank KfW errechnet haben. Weiterhin müssten 110 Milliarden in den Bildungsbereich fließen, 75 Milliarden zur Förderung einer CO2-neutraleren Wirtschaft eingesetzt und 60 Milliarden in die Deutsche Bahn investiert werden. Jeweils 20 Milliarden empfiehlt der Experte für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, von Fernstraßen und der Breitband-Infrastruktur. Und mit 15 Milliarden müsste der Wohnungsbau angeschoben werden.

Der Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, Michael Hüther, kritisierte wieder einmal die Schuldenbremse als reformbedürftig, weil sie zu wenig flexibel sei. Die Regelung ist nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 eingeführt worden, als Deutschland noch deutlich höhere Verbindlichkeiten hatte. Hüther sagte, viele Studien sprächen dafür, dass die Zinsen auf lange Sicht niedrig blieben, was für kreditfinanzierte Investitionen spreche. Weil Bundesanleihen als sehr sicher gelten und daher bei Investoren besonders begehrt sind, verdient der Staat momentan sogar Geld beim Schuldenmachen.

Auch die Bauindustrie ist unzufrieden mit der großen Koalition. Sie fordert konstante Infrastrukturmodernisierungen, damit die Firmen vernünftig planen und ihre Kapazitäten aufstocken könnten. Gleichzeitig müsse mehr getan werden, um die Akzeptanz von Großprojekten zu steigern. BDI-Präsident Kempf ergänzte, der Staat müsse dort aktiv sein, wo es sich für Firmen nicht lohne – und effizienter werden. Beim Breitbandausbau seien zum Beispiel von Fördermitteln in Höhe von 4,5 Milliarden Euro gerade einmal drei Prozent auch abgerufen worden.

Das ist auch die Crux bei allen Forderungen nach mehr Zukunftsinvestitionen: Oft werden sie nicht nur durch die Bürokratie oder den Widerstand von Bürgerinitiativen behindert und verzögert, sondern auch durch mangelnde Planungskapazitäten bei Bund, Ländern und Gemeinden.

Oder anders: Die bereits genehmigten Gelder können nicht sinnvoll eingesetzt und ausgegeben werden, weil das Personal für Planung, Projektmanagement und Kontrolle fehlt. Rund 19,2 Milliarden Euro hat der Bund aus dem Haushaltsjahr 2018 in den laufenden Haushalt übertragen müssen, weil sie nicht abgerufen und verbraucht werden konnten. Nicht das Geld ist also oft das Problem bei den Investitionen, sondern der schleppende Abfluss. Jetzt rächt sich, dass die Öffentliche Hand jahrzehntelang massiv Personal abgebaut hat – nicht nur bei Lehrern und Polizei, sondern auch bei Planern und Ingenieuren.