Gefühlte Wahrscheinlichkeiten

Foto: Viktor Mildenberger/pixelio.de
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Nach einer deutschen Risikostudie von 1979 (Phase A) ist alle 10.000 Reaktorjahre ein Kernschmelzunfall mit radioaktiver Belastung der Umwelt zu rechnen, die Wahrscheinlichkeit für einen ein Kernschmelzunfall mit mehreren akuten Todesfällen wird auf eine Million Reaktorjahre beziffert. Das klingt beruhigend und wiegt uns in trügerischer Sicherheit. Denn diese – statistisch vermutlich zutreffenden – Aussagen suggerieren, dass einem deutschen Kernkraftwerk nichts passieren kann. Ein deutscher Reaktor läuft vermutlich 60 Jahre, bleiben immer noch 9 940 Jahre Risikopuffer, und über den Super-GAU brauchen wir uns erst recht keine Gedanken zu machen, der liegt eine Million Jahre weit weg.

Irrtum. Beide Ereignisse können morgen eintreten, dann hätten wir theoretisch 10.000 bzw.eine Million Jahre Ruhe gehabt. Witzig ist nur: Übermorgen kann wieder ein GAU eintreten, dann hätten wir theoretisch 20 000 oder zwei Millionen Jahre Ruhe. Merkt ihr was? Die Statistiker sprechen von „unabhängigen Ereignissen“. Ihre Wahrscheinlichkeit ist vermutlich korrekt berechnet. Was aber nichts darüber aussagt, wann diese Ereignisse eintreten.

In einem Popsong heißt es: „Future is a muscle you don’t have“. Wir haben auch kein Sinnesorgan für Wahrscheinlichkeiten. Im Gegenteil, wir lassen uns gerne täuschen. Wer drei Richtige im Lotto hat, der glaubt felsenfest, beim nächsten Mal gäb’s vier oder mehr Richtige, wer Stunden um Stunden beim Windows-Kartenspiel Solitär verdaddelt hat, der konnte einfach nicht aufhören, weil er sich dachte: Verdammt noch mal, ich war so nahe dran, beim nächsten mal klappt es.

Nichts da. Statistische Wahrscheinlichkeiten und die menschliche Wahrnehmung klaffen weit auseinander, das Spiel fängt immer wieder bei Null an. Von dieser Sinnestäuschung lebt nicht nur die Glücksspielindustrie (2003: 27 Mrd. Euro Umsatz in Deutschland), davon lebt auch die Atomwirtschaft. Die (nicht meine) Kanzlerin hat sich auf einen Deal mit Mephisto in Gestalt der Atomlobby eingelassen. Die kassiert von ihren längst abgeschriebenen Atommeilern weitere Milliarden ohne zusätzliche Kosten, und der Bund kassiert die Hälfte der Beute, auf Kosten der Umwelt und der Stromkunden.

Angela Merkel ist Physikerin, heißt es. Dann müsste sie eigentlich mit statistischen Wahrscheinlichkeiten umgehen können. Als sie sich im vergangenen Herbst ohne Not mit der Atomwirtschaft ins Bett gelegt hat, wird sie vermutlich gedacht haben, zu 99 Prozent geht das gut. Ich kann nur hoffen, dass ihr dieses statistische Kalkül bei den nächsten Landtagswahlen so richtig um die Ohren fliegt.

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10 thoughts on “Gefühlte Wahrscheinlichkeiten

  1. Lieber Rolf, Leute, die den Größten Anzunehmenden Unfall (GAU) noch zu einem Super-Gau steigern können, sollten sich mal besinnen. Sprache kann verräterisch sein. Ein Erdbebeben in der Region um Japan führt bekanntlich häufig zu einer Tsunami-Welle. Wenn also ein fürchterliches Erdbeben einen noch schrecklicheren Tsunami auslöst, ist das schon schlimm genug. Dem hält kaum etwas stand, nicht einmal ein Atomkraftwerk. Also war es ein Fehler, die so in Japan zu bauen. Ich glaube aber nicht, dass wir in Deutschland mit solchen Ereignissen rechnen müssen. Also sollten die Politiker und die Angstbürger mal den Verstand einschalten. Zudem: Wer dezentrale Energiegewinnung will, sollte sich nicht gegen die „Verspargelung“ der Landschaft, Stromtrassen und „Elektrosmogfelder“ wehren, sondern das schön finden. Sonst bleibt nur der Kerzenschein.

    Im übrigen machen manche Deiner Kollegen den Eindruck, Sie wünschten sich, die ersten zu sein die über den Eintritt des „Super-Gau“ berichten dürfen.

  2. ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, jetzt scheinen wohl alle reaktorblöcke des akw fukushima zu havarieren – und die armen menschen dort sind dem ausgeliefert.

    alle anderen aufregungsdebatten hierzulande als stimmungsmache für anstehende landtagswahlen auszuschlachten ist für mich mehr als ein schlag ins gesicht der betroffenen japaner…

    ich werde mich heute der gartenarbeit widmen, das soll ja gut für die seele sein. ansonsten kann ich wohl kaum mehr tun als beten und strom sparen

  3. Lieber Gerd, ich mag das Wort Super-GAU auch nicht besonders. Aber es ist zur Unterscheidung zweier verschiedener Szenarien (und Wahrscheinlichkeiten) durchaus gebräuchlich. Wikipedia ist zwar nicht unfehlbar, aber ich zitiere trotzdem mal:

    „Ein Auslegungsstörfall eines Kernkraftwerks (AKW, KKW), nach der Definition des Bundesamts für Strahlenschutz auch als größter anzunehmender Unfall (GAU) bezeichnet, ist der größte Unfall, „für den die Sicherheitssysteme noch ausgelegt sein müssen. Die Sicherheitssysteme müssen in einem solchen Fall gewährleisten, dass die Strahlenbelastung außerhalb der Anlage die nach der Strahlenschutzverordnung geltenden Störfallgrenzwerte nicht überschreitet.“

    Es ist somit der größte Unfall, der bei der Planung einer kerntechnischen Anlage anzunehmen ist und dessen Beherrschbarkeit im Rahmen des Genehmigungsverfahrens nachzuweisen ist. [] Es gibt aber Störfälle, die von solchen Modellen nicht erfasst werden und die zu einem technisch nicht mehr beherrschbaren Super-GAU führen (siehe auch Kernschmelze).“

  4. Wie kann man allen Ernstes einer Technologie vertrauen, deren Schäden bei einem durchaus wahrscheinlichen Versagen nicht mehr zu beheben sind? Das will mir einfach nicht in den Kopf.

  5. @Immekeppel

    Hallo Marion, ich kann Deine Trauer und Dein Mitgefühl sehr gut verstehen. Das darf uns aber nicht verbieten, auch hierzulande über den Einsatz von Kernenergie erneut nachzudenken. Wie soll ich Deinen Satz verstehen:

    „alle anderen aufregungsdebatten hierzulande als stimmungsmache für anstehende landtagswahlen auszuschlachten ist für mich mehr als ein schlag ins gesicht der betroffenen japaner“?

    Ist die Debatte ein Schlag ins Gesicht oder der Versuch, diese als Stimmungsmache umzudeuten? Das wird mir nicht ganz klar. Falls Du ersteres meinst, empfehle ich Dir Trithemius Beitrag zu Norbert Röttgen oder einen Kommentar im Blog der NaturFreunde Deutschlands. Dort heißt es:

    „Gestern Abend hat sich Herr Röttgen in den Tagesthemen ein dreistes Stück geleistet: Erst wollte er die Atomenergie aus „der Kampfzone“ herausbringen. Nur, wer hat sie denn mit der Verlängerung der Laufzeiten überhaupt da rein gebracht, nachdem das Thema durch den Ausstiegsbeschluss befriedet war? Und dann sagte der Bundesumweltminister einen ungeheuerlichen Satz: Er habe „aus den Gesichtern (der Kritiker) die parteitaktische Freude an diesem Ereignis“ erkannt.

    Pfui, Herr Röttgen, damit haben Sie eine Grenze überschritten, das ist üble Brunnenvergiftung. Der langjährige Hardliner der Atomenergie macht seine Haltung zu einer moralischen Frage, während die, die seit Jahren für einen Ausstieg eintreten, die Atomfrage angeblich für den Wahlkampf instrumentalisieren. Bundesumweltminister Norbert Röttgen verdreht die Wahrheit, denn es waren CDU und CSU, die bisher jede kritische Position gegen die Atomkraft als verantwortungslos abgetan hatten.

    Und nun? Eine 180-Grad-Wende von Frau Merkel und Herrn Röttgen, begründet mit einer angeblich „historischen Zäsur“ durch die Kernschmelzen in Fukushima. Herr Röttgen behauptet, jetzt seien es „Laufzeiten mit Restrisiko“. Es sei das eingetreten, was bisher ausgeschlossen war. Tatsächlich ist schrecklicherweise genau das eingetreten, wovor die Umwelt- und Naturschutzbewegung immer gewarnt hat – Herr Röttgen aber nie.

    Zudem will sich der Bundesumweltminister jetzt auch noch als Brückenbauer der Solarenergie hinstellen. Doch wer hat denn in der Vergangenheit gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) gestimmt und zuletzt die Solarförderung gekürzt? Das war Herr Röttgen. Unter Rot-Grün, in deren Zeit das EEG-Gesetz entstanden ist, glänzten CDU und CSU im Bundestag immer nur durch Widerstand und Ablehnung.“

  6. GAU – SuperGAU – OberammerGAU.

    Sorry, wenn ich’s an der sicher nötigen Ernsthaftigkeit vermissen lasse. Allerdings, ob ich ernsthaft oder dann doch lieber sarkastisch bin, hilft den betroffenen Menschen in Japan eh nix.

    Daß man hierzulande mit dem Thema Atomkraft Wahlkampf macht war ja wohl zu erwarten. Was sonst so an Diskussionen läuft (ich verfolge das Forum von „Spiegel online“ einigermaßen aufmerksam) ist dann allerdings schon teilweise grenzwertig. Von den Atomkraft-Fans kommen die alten Sprüche von wegen „Steinzeit“ (gähn!), die man sich schon 1980 anhören mußte, dabei scheint es hierzulande mit der Stromversorgung ja dann doch zu klappen, wenn eine Handvoll der Kraftwerke gleich mal abgeschaltet wird, weil der sprechende Hosenanzug das gerne möchte. Oh, die Lichter gehen aus! Anscheinend dann doch nicht so schnell.

  7. ich für meinen teil hab jedenfalls beschlossen, mit den füßen abzustimmen und werde noch heute zu einem ökostromanbieter wechseln in der hoffnung, dass dieser mir keinen importierten atomstrom unterjubelt.

    wobei das abschalten sämtlicher deutschen meiler nur ein tropfen auf den heißen stein der akw-weltlandschaft ist …

    und mit debatte hierzulande meinte ich ja genau das, was trithemius drastisch ausformuliert hat. hier schreiben sich politiker jedweder couleur angesichts der japanischen katastrophe plötzlich energiewirtschaftliches gutmenschentum auf die fahnen, da in drei ländern wahlkampf droht. und was, wenn schwarz-gelb geglaubt wird, ein schelm, wer schlechtes dabei denkt …

  8. Wir Menschen haben uns wohl selbst übertroffen mit unserer Neugier und mit unserer Intelligenz und dem Wunsch alles zu verstehen. Die Technikgläubigkeit hat uns sehr weit gebracht, doch der blinde Glaube daran bringt uns möglicherweise in den Abgrund. Vielleicht lernen wir jetzt endlich, dass es hauptsächlich darum geht die SCHÖPFUNG ZU ACHTEN UND ZU BEWAHREN. Wir sind sonst nämlich bald verloren auf diesem Planet und haben keine Zukunft mehr.

    Was Politiker betrifft: wir ärgern uns sicher zurecht über sie. Doch müssen sie auch die gesamte Nation und die gesamte Wirtschaft im Auge behalten. Die Schulden, die abzubauen sind, der Energiebedarf einer Nation,- besonders in einem langen und kalten Winter. Sie haben wenig Zeit lange nachzudenken und stehen immer in der Kritik. Wir Bürger – ohne direkte Exekutivgewalt – haben es da einfacher. Leider brauchen wir wohl immer Katastrophen, damit wir ALLE umdenken. Vielleicht ist es jetzt soweit!

  9. Für alle, die fürchten, morgen könne das Licht ausgehen, folgende dpa-Meldung:

    „Die geplante Abschaltung der sieben vor 1980 in Betrieb genommenen Atommeiler ist nach Experten-Ansicht für die Stromversorgung in Deutschland völlig unerheblich. „Deutschland hat genügend andere Kraftwerkskapazitäten“, sagte Christof Timpe vom Öko-Institut in Freiburg am Mittwoch der Nachrichtenagentur dpa. Baden-Württemberg etwa importiere zwar jährlich rund 15 Prozent Strom. Dieser Import werde sich durch bald stillgelegte Meiler wie Neckarwestheim I oder Philippsburg I aber nur unwesentlich erhöhen. „Der Wegfall von Kapazitäten kann leicht mit Hilfe anderer fossiler Kraftwerke – Kohle oder Gas – aufgefangen werden.“

    In Deutschland gebe es an mehreren Standorten Kraftwerke, die für Stromersatz bereitgehalten werden, sagte Timpe. Manche könnten sofort ans Netz gehen, manche befänden sich in der sogenannten «Kaltreserve» und könnten in kurzer Zeit hochgefahren werden. „Sieben bis acht Atommeiler könnten wir ohne weiteres sofort vom Netz nehmen“, so Timpe. „Auch etwa fünf weitere könnten problemlos stillgelegt werden.“ Deutschland insgesamt sei bislang sogar Netto-Stromexporteur. Rund fünf Prozent der deutschen Stromproduktion würden pro Jahr ins Ausland verkauft. „Ob der Export durch abgeschaltete Atommeiler auf Null zurückgefahren werden muss, dass wird sich noch herausstellen“, sagte Timpe.“

  10. zum 1.5. bin auch ich ökostrom-nutzerin. fukushima war der längst fällige tritt in den hintern meines inneren schweinehunds …

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