Raus aus der Schnarchphase

Foto: Frank Ulbricht / pixelio.de

Das ist schon ein recht ungewöhnlicher Schulterschluss, doch diesmal sind sich Arbeitgeber und Gewerkschaften einig: Die Regierung macht nach ihrer Auffassung zu wenig für die Zukunft. Sie fordern vehement mehr Investitionen in Infrastruktur und Bildung. Die Frage ist nur, ob die Öffentliche Hand überhaupt noch das nötige Personal hat, um das Geld für Zukunftsinvestitionen sinnvoll auszugeben. 

Deutschland sollte in den nächsten zehn Jahren zusätzlich mehr als 450 Milliarden Euro investieren, um seine Infrastruktur und sein Bildungssystem zu modernisieren, fordern Arbeitgeber und der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB seit dem heutigen Montag (18.11.2019) in seltener Einigkeit. Die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse stellen sie dabei ebenso in Frage wie die noch auf Jahre von der Regierung angestrebte Schwarze Null im Haushalt. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Olaf Scholz bleiben allerdings stur. Sie sagen, die Investitionen lägen bereits auf Rekordniveau.

„Deutschland muss aus der Schnarchphase rauskommen“, sagte der Präsident des Industrieverbandes BDI, Dieter Kempf, in Berlin. Es müsse ganz neu gedacht und diskutiert werden. Es gebe die echte Sorge, dass die Regierung zu wenig mache. Der Vorsitzende des DGB, Reiner Hoffmann, erwartet, dass die große Koalition dazu in der zweiten Hälfte ihrer Amtszeit dazu klare Ansagen macht. Beide verwiesen darauf, dass es für große Bauvorhaben eine effizientere Planung und schnellere Genehmigungsverfahren geben müsse.

Merkel verteidigte die Schwarze Null, obwohl Deutschland zuletzt nur knapp an einer Rezession vorbeigeschrammt ist. Finanzminister Scholz sagte, in den nächsten zehn Jahren seien Investitionen von zusammen weit über 400 Milliarden Euro geplant. Das Klimaschutzpaket bringe weitere 150 Milliarden Euro. Deshalb sehe er die Forderungen von Gewerkschaften und Industrie eher als Unterstützung seiner ohnehin schon expansiven Finanzpolitik.

Sebastian Dullien, der Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans Böckler-Stiftung, ist überzeugt, dass der Staat ganze zwei Jahrzehnte zu wenig investiert hat. Im nächsten Jahrzehnt müssten 138 Milliarden Euro eingesetzt werden, um den Investitionsstau der oft klammen Kommunen abzubauen – eine Summe, die auch der Deutsche Städtetag und die staatliche Förderbank KfW errechnet haben. Weiterhin müssten 110 Milliarden in den Bildungsbereich fließen, 75 Milliarden zur Förderung einer CO2-neutraleren Wirtschaft eingesetzt und 60 Milliarden in die Deutsche Bahn investiert werden. Jeweils 20 Milliarden empfiehlt der Experte für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, von Fernstraßen und der Breitband-Infrastruktur. Und mit 15 Milliarden müsste der Wohnungsbau angeschoben werden.

Der Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, Michael Hüther, kritisierte wieder einmal die Schuldenbremse als reformbedürftig, weil sie zu wenig flexibel sei. Die Regelung ist nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 eingeführt worden, als Deutschland noch deutlich höhere Verbindlichkeiten hatte. Hüther sagte, viele Studien sprächen dafür, dass die Zinsen auf lange Sicht niedrig blieben, was für kreditfinanzierte Investitionen spreche. Weil Bundesanleihen als sehr sicher gelten und daher bei Investoren besonders begehrt sind, verdient der Staat momentan sogar Geld beim Schuldenmachen.

Auch die Bauindustrie ist unzufrieden mit der großen Koalition. Sie fordert konstante Infrastrukturmodernisierungen, damit die Firmen vernünftig planen und ihre Kapazitäten aufstocken könnten. Gleichzeitig müsse mehr getan werden, um die Akzeptanz von Großprojekten zu steigern. BDI-Präsident Kempf ergänzte, der Staat müsse dort aktiv sein, wo es sich für Firmen nicht lohne – und effizienter werden. Beim Breitbandausbau seien zum Beispiel von Fördermitteln in Höhe von 4,5 Milliarden Euro gerade einmal drei Prozent auch abgerufen worden.

Das ist auch die Crux bei allen Forderungen nach mehr Zukunftsinvestitionen: Oft werden sie nicht nur durch die Bürokratie oder den Widerstand von Bürgerinitiativen behindert und verzögert, sondern auch durch mangelnde Planungskapazitäten bei Bund, Ländern und Gemeinden.

Oder anders: Die bereits genehmigten Gelder können nicht sinnvoll eingesetzt und ausgegeben werden, weil das Personal für Planung, Projektmanagement und Kontrolle fehlt. Rund 19,2 Milliarden Euro hat der Bund aus dem Haushaltsjahr 2018 in den laufenden Haushalt übertragen müssen, weil sie nicht abgerufen und verbraucht werden konnten. Nicht das Geld ist also oft das Problem bei den Investitionen, sondern der schleppende Abfluss. Jetzt rächt sich, dass die Öffentliche Hand jahrzehntelang massiv Personal abgebaut hat – nicht nur bei Lehrern und Polizei, sondern auch bei Planern und Ingenieuren.

 

Neue Medien

In schöner Regelmäßigkeit werden in Deutschland Studien und Umfragen zur Internetkompetenz deutscher Politiker veröffentlicht. Laut der jüngsten Umfrage unter 750 deutschen Politikern antwortet die Hälfte nicht auf E-Mails. 45 Prozent von ihnen sind auf Social Media-Plattformen wie Facebook und Twitter schlicht nicht auffindbar. US-Präsident Obama macht das anders – er besucht Facebook-Gründer Marc Zuckerberg und diskutiert im Internet mit seinen 19 Millionen Facebook-Freunden. Die ganze Story von Gabriel Gonzalez hier.

Gefühlte Wahrscheinlichkeiten

Foto: Viktor Mildenberger/pixelio.de
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Nach einer deutschen Risikostudie von 1979 (Phase A) ist alle 10.000 Reaktorjahre ein Kernschmelzunfall mit radioaktiver Belastung der Umwelt zu rechnen, die Wahrscheinlichkeit für einen ein Kernschmelzunfall mit mehreren akuten Todesfällen wird auf eine Million Reaktorjahre beziffert. Das klingt beruhigend und wiegt uns in trügerischer Sicherheit. Denn diese – statistisch vermutlich zutreffenden – Aussagen suggerieren, dass einem deutschen Kernkraftwerk nichts passieren kann. Ein deutscher Reaktor läuft vermutlich 60 Jahre, bleiben immer noch 9 940 Jahre Risikopuffer, und über den Super-GAU brauchen wir uns erst recht keine Gedanken zu machen, der liegt eine Million Jahre weit weg.

Irrtum. Beide Ereignisse können morgen eintreten, dann hätten wir theoretisch 10.000 bzw.eine Million Jahre Ruhe gehabt. Witzig ist nur: Übermorgen kann wieder ein GAU eintreten, dann hätten wir theoretisch 20 000 oder zwei Millionen Jahre Ruhe. Merkt ihr was? Die Statistiker sprechen von „unabhängigen Ereignissen“. Ihre Wahrscheinlichkeit ist vermutlich korrekt berechnet. Was aber nichts darüber aussagt, wann diese Ereignisse eintreten.

In einem Popsong heißt es: „Future is a muscle you don’t have“. Wir haben auch kein Sinnesorgan für Wahrscheinlichkeiten. Im Gegenteil, wir lassen uns gerne täuschen. Wer drei Richtige im Lotto hat, der glaubt felsenfest, beim nächsten Mal gäb’s vier oder mehr Richtige, wer Stunden um Stunden beim Windows-Kartenspiel Solitär verdaddelt hat, der konnte einfach nicht aufhören, weil er sich dachte: Verdammt noch mal, ich war so nahe dran, beim nächsten mal klappt es.

Nichts da. Statistische Wahrscheinlichkeiten und die menschliche Wahrnehmung klaffen weit auseinander, das Spiel fängt immer wieder bei Null an. Von dieser Sinnestäuschung lebt nicht nur die Glücksspielindustrie (2003: 27 Mrd. Euro Umsatz in Deutschland), davon lebt auch die Atomwirtschaft. Die (nicht meine) Kanzlerin hat sich auf einen Deal mit Mephisto in Gestalt der Atomlobby eingelassen. Die kassiert von ihren längst abgeschriebenen Atommeilern weitere Milliarden ohne zusätzliche Kosten, und der Bund kassiert die Hälfte der Beute, auf Kosten der Umwelt und der Stromkunden.

Angela Merkel ist Physikerin, heißt es. Dann müsste sie eigentlich mit statistischen Wahrscheinlichkeiten umgehen können. Als sie sich im vergangenen Herbst ohne Not mit der Atomwirtschaft ins Bett gelegt hat, wird sie vermutlich gedacht haben, zu 99 Prozent geht das gut. Ich kann nur hoffen, dass ihr dieses statistische Kalkül bei den nächsten Landtagswahlen so richtig um die Ohren fliegt.

Einfach anhören

Grafik: Gerd Altmann/pixelio.de
Grafik: Gerd Altmann/pixelio.de

Opel wird ohne Staatsknete saniert. Toyota muss Millionen Autos zurückrufen. Die Karstadt-Warenhäuser werden gerettet. Die Europäische Union spannt einen riesigen Rettungsschirm über klamme Euro-Länder. Es ist viel passiert in der Wirtschaft des Jahres 2010. Ein akustischer Rückblick statt einer Blogger-Bleiwüste. Übrigens vermutlich der erste und letzte Hörfunk-Beitrag, in dem ich singe. Wann und was – das müsst Ihr selbst rausfinden. Einen guten Rutsch ins Neue Jahr!

Wozu die Aufregung?

Wikileaks gibt keine Ruhe und sorgt nun für diplomatischen Trubel: 250.000 geheime Dokumente aus den US-Botschaften wurden veröffentlicht. Sie zeigen, wie die Supermacht über ihre Partner und deren Politiker denkt. Rund 1700 Berichte stammen aus der US-Botschaft in Berlin. Demnach ist Angela Merkel selten kreativ und risikoscheu, Guido Westerwelle unerfahren, inkompetent und eitel. Leute, wozu diese Aufregung? Ich finde, Botschafter Murphy hat eine hervorragende Beobachtungsgabe und kann Personen treffsicher einschätzen! Ich habe selten so eine offene und klare Sprache vernommen!

Zu Berlusconi hätten die US-Diplomaten geschrieben, er erscheine zunehmend als Sprachrohr Putins in Europa. Der russische Premier wird als Alpha-Rüde bezeichnet, Präsident Dmitri Medwedew als blass und zögerlich. Das würde ich sofort unterschreiben! Ägyptens Präsident Hosni Mubarak hat den unter George W. Bush begonnenen Irak-Krieg für gefährlichen Unsinn und den damaligen US- Präsidenten für unbelehrbar gehalten. Alle Achtung, Herr Mubarak – es ehrt Sie, so vom US-Botschafter in Kairo eingeschätzt zu werden! Mein Fazit: Manche US-Diplomaten machen einen ganz guten Job.