Weidmann wichtiger als Weber

Auch wenn wir Sparer uns schwarz ärgern – eine Abkehr von der Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank EZB können wir uns für die nächsten Monate – wenn nicht gar Jahre – abschminken. Die EZB schiebt nämlich wegen wachsender Konjunktursorgen eine Zinswende immer weiter hinaus.

Der Zentralbankrat hat heute (06.06.2019) in Litauens Hauptstadt Vilnius angekündigt, die Leitzinsen noch bis mindestens zum Sommer nächsten Jahres unverändert zu lassen. Bislang galt diese Ankündigung nur bis zum Ende des Jahres. Die Zentralbank sei für alle Fälle gerüstet, so wird EZB-Präsident Mario Draghi zitiert.

Den Frankfurter Währungshütern bereitet offenbar der Zollstreit zwischen den USA und China Sorgen. Der wird wohl nicht nur diese beiden Volkswirtschaften in Mitleidenschaft ziehen, sondern auch auf die Konjunktur in Europa abfärben. Deshalb hält der EZB-Rat alle geldpolitischen Instrumente einsatzbereit, die er im Werkzeugkasten hat – inklusive neuer Anleihenkäufe.

Wieder einmal wird die Zinswende verschoben – und was noch schlimmer ist: Der künftige Nachfolger von Draghi wird wenig Spielraum haben, daran etwas zu ändern. Draghi scheidet bekanntlich Ende Oktober aus dem Amt. In seiner achtjährigen Zeit hat er nicht ein einziges Mal die Zinsen erhöht. Der Schlüsselsatz zur Versorgung der Banken mit Geld liegt seit März 2016 auf dem Rekordtief von 0,0 Prozent.

Eine Zeit lang hatte ich die Hoffnung, Draghis Nachfolger werde der Präsident der Deutschen Bundesbank, Jens Weidmann. Der galt bislang immer als Kritiker der gigantischen Anleihenkäufe der EZB und ihrer ultralockeren Geldpolitik. Das werde zu einer Wende in der Geldpolitik führen, dachte ich.

Witzigerweise sind Weidmanns Chancen, Draghi-Nachfolger zu werden, seit der Europawahl sogar noch gestiegen. Denn der CSU-Politiker Manfred Weber wird es sehr schwer haben, den angestrebten Posten des EU-Kommissionspräsidenten zu kriegen. Merkel unterstützt ihn nur halbherzig, und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron lehnt ihn rundweg ab. Falls Weber nicht zum Zuge kommt, steigen Weidmanns Chancen, Draghi im Herbst an der EZB-Spitze zu beerben.

Allerdings bin ich mir schon lange nicht mehr sicher, ob Weidmann an der Nullzinspolitik etwas ändern würde. Für eine Anhebung der Zinsen fehlt nämlich eine Voraussetzung: Inflation. Unsere Wirtschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten so stark verändert, dass kaum noch mit Inflation zu rechnen ist. Fachleute nennen dafür zwei Gründe: Globalisierung und Digitalisierung. Die Globalisierung bringt es mit sich, dass Unternehmen nicht unbedingt höhere Löhne zahlen und an ihre Kunden weitergeben müssen, wenn sie mehr produzieren wollen – sie können ja auf Billigstandorte ausweichen. Und die Digitalisierung sorgt dafür, dass Kostensteigerungen nicht so einfach auf den Konsumenten abgewälzt werden können. Denn noch nie waren Preisvergleiche so einfach wie in den Zeiten des Online-Shoppings.

Abgesehen davon wird die gesamte digitale Technik immer leistungsfähiger und trotzdem tendenziell immer billiger. Dass Inflation schon lange kein Thema mehr ist, zeigen ja auch die vergangenen Jahre der wirtschaftlichen Erholung in Europa. Sie ging völlig spannungsfrei mit niedrigen Preissteigerungsraten einher, obwohl nach dem Lehrbuch im Aufschwung die Preise eigentlich rasant steigen müssten.

Und so bleibt es vermutlich auch unter einem EZB-Präsidenten Weidmann bei der Nullzinspolitik der EZB mit ihrer zweischneidigen Wirkung. Klassische Sparer leiden ungemein, weil ihr Angespartes auch mit niedrigen Inflationsraten stetig an Wert verliert, Aktienanleger profitieren dagegen, weil es zu Aktien keine renditeträchtigen Alternativen gibt – höchstens noch Immobilien. Die Reichen werden reicher, weil sie in Aktien und Immobilien investieren können, der kleine Mann wird schleichend enteignet.

Dennoch wäre mir ein EZB-Präsident Jens Weidmann lieber als ein Kommissionspräsident Manfred Weber. Denn der nächste EZB-Chef wird es unweigerlich mit der Schuldenorgie der italienischen Populisten zu tun bekommen. Party kann man das schon nicht mehr nennen, was Italiens Nationalisten und Populisten veranstalten, Orgie ist da schon treffender. Die Frage, ob die EZB dann in großem Maße Staatsanleihen Italiens kaufen soll, ist für Deutschland enorm wichtig. Mit einem EZB-Präsidenten, der wie Weidmann als Kritiker der Anleihenkäufe gilt, können die Partygänger des Club Mediterranee nicht darauf hoffen, dass die EZB hoch verschuldete Staaten einfach immer weiter alimentiert.

Haushaltsspielraum – schon verspielt?

Foto: Frank Ulbricht / pixelio.de

Die Bundesregierung ist zu Zeit nicht nur dabei, die Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen, sondern sie plant darüber hinaus weitere Gesetzesvorhaben. Gleichzeitig lässt aber das Wachstum der Steuereinnahmen nach. Die Mehrausgaben würden den Handlungsspielraum des Bundes bis 2022 um voraussichtlich mehr als 100 Milliarden Euro überschreiten, hat der Finanz- und Steuerexperte Tobias Hentze am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln ausgerechnet. Dabei handelt es sich seiner Meinung nach längst nicht nur um zukunftsgerichtete Investitionen, für die im Zweifelsfall neue Schulden gerechtfertigt wären.

 

Als die Große Koalition vor gut einem Jahr ihre Arbeit aufnahm, war sie in einer fast einmalig komfortablen Situation: Der Bundeshaushalt war mit einem Überschuss von 46 Milliarden Euro richtig gut ausgestattet. Erstmals in der Geschichte der Bundesregierung waren viele Projekte möglich, ohne lange über die Finanzierung streiten zu müssen.

Einige der im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorhaben – höheres Kindergeld, Baukindergeld und der Digitalpakt an Schulen – sind bereits umgesetzt. Die Bundesregierung möchte jedoch in den Jahren 2019 bis 2022 weitere Projekte verwirklichen. Vor allem die Rentenpläne mit der geplanten Grundrente, der Mütterrente, der Erwerbsminderungsrente und den Zuschüssen zu den Betriebsrenten würden schätzungsweise insgesamt 28 Milliarden Euro verschlingen.

Auch der Brexit belastet den Bundeshaushalt: Wenn die Briten wie geplant aus der Europäischen Union aussteigen, muss Deutschland ab 2021 rund 16 Milliarden zusätzlich für die wegfallenden EU-Nettozahlungen Großbritanniens stemmen. Zudem seien etwa 24 Milliarden Euro mehr für Verteidigung und Entwicklungszusammenarbeit nötig. Auch nicht im Bundeshaushalt eingeplant seien Mehrkosten für den teilweisen Abbau des Solidaritätszuschlags, den IW-Forscher Hentze auf rund 20 Milliarden Euro veranschlagt, die Innere Sicherheit und Verwaltung (zwölf Milliarden), die steuerliche Forschungsförderung (zwei Milliarden) sowie dringende Ausgaben für Bildung, Familien und Wohnen, die sich auf rund drei Milliarden Euro belaufen würden.

In den Jahren 2019 bis 2022 übersteigen nach Hentzes Berechnungen die geplanten Ausgaben den Handlungsspielraum insgesamt um schätzungsweise 105 Milliarden Euro. Schulden sind nach Auffassung Hentzes grundsätzlich kein Tabu – allerdings setze die Bundesregierung falsche Schwerpunkte. „Noch hat die Große Koalition Zeit, ihre Wunschliste kritisch zu prüfen und zu überlegen, ob alle Vorhaben eine Investition in die Zukunftsfähigkeit Deutschlands sind“, sagt der IW-Steuerexperte. Er empfiehlt eine antizyklische Finanzpolitik: Demnach müsste die Bundesregierung in Zeiten von Niedrigzinsen investieren und in Zeiten von hohen Zinsen sparen – dieser Ansatz habe sich bereits bei der Finanzkrise vor zehn Jahren bewährt.

Die Bundesregierung sei gut beraten, wenn sie bei ihren Ausgabenwünschen Prioritäten setzen würde. Andernfalls führe die Summe der strukturellen Ausgabenerhöhungen dazu, dass vor allem die kommenden Generationen stark belastet würden. So richtig evident würde das Ausmaß einer ungebremsten Ausgabenerhöhung werden, wenn das Zinsniveau wieder anzieht.

Eine Kurzfassung der Studie kann man  hier nachlesen.