Influencer: Die Luft wird enger

Wer heutzutage einigermaßen geradeaus in ein Mikrofon oder eine Kamera stammeln kann, fühlt sich bald zum Influencer berufen. Ein Drittel aller zwischen 1997 und 2010 in Deutschland geborenen Menschen will seinen Lebensunterhalt als Influencer verdienen, sagen Studien. Das Institut der deutschen Wirtschaft warnt indes: Die Aufmerksamkeit des Pubkikums lässt sich nicht beliebig steigern.

Ach ja, Influencer im Internet: Gibt es doch da die schöne Erzählung, nach der Cristiano Ronaldo auf einer Pressekonferenz der Europameisterschaft 2021 durch das Beiseitestellen zweier Cola-Flaschen den Aktienkurs des weltbekannten Zuckerbrause-Produzenten aus Atlanta/Georgia einbrechen ließ. Seitdem ist klar, wie stark bekannte Persönlichkeiten den Ruf und dadurch die wirtschaftliche Situation einzelner Unternehmen beeinflussen können – im positiven wie im negativen Sinne.

Das Erfolgsrezept: Anders als herkömmliche Werbung wirken Empfehlungen von Influencern auf deren Follower wie ein freundschaftlicher Rat. Für die Unternehmen hinter dem Werbedeal heißt das: Kundenvertrauen ist fest eingebaut. Den werbenden Influencern bringen die gesponsorten Posts indes gutes Geld ein. Und die stetig steigenden Ausgaben für Influencer-Kampagnen legen den Schluss nahe, dass sich die moderne Marketingstrategie auch für die Firmen rentiert. Im Jahr 2021 gaben Unternehmen laut Influencer Marketing Hub weltweit mit fast 14 Milliarden Dollar mehr als doppelt so viel für Influencer-Marketing aus wie noch zwei Jahre zuvor.

Na, das ist doch mal ein richtig dicker Wirtschaftsfaktor: Während 2018 nur zwölf Prozent der deutschen Unternehmen bereit waren, mehr als 100.000 Euro für Influencer-Marketing auszugeben, waren es 2020 bereits 25 Prozent. Laut einer Umfrage des Bundesverbands Digitale Wirtschaft planten für das Jahr 2021 rund 45 Prozent der befragten Unternehmen, ihr Budget für Influencer-Marketing weiter zu erhöhen. Lediglich vier Prozent wollten weniger Geld als 2020 investieren.

Doch nicht nur die Nachfrage der Unternehmen nach werbenden Influencern wächst. Auch viele junge Menschen können sich mittlerweile vorstellen, ihr Geld über die sozialen Medien zu verdienen. Eine Umfrage von YouGov Deutschland unter den von 1997 bis 2010 Geborenen – auch bekannt als Generation Z – zeigt: Fast ein Drittel der Generation Z ist nach eigenen Angaben schon Vollzeit-Influencer oder möchte es werden, sechs Prozent der Befragten verdienten 2021 so bereits ihren Lebensunterhalt.

Auf Plattformen wie Instagram, YouTube und TikTok schießen Influencer derzeit immer noch wie Pilze aus dem Boden. Das Geschäftsmodell beruht natürlich einzig und allein auf der Neugierde und der Aufmerksamkeit ihrer Follower. „Aufmerksamkeit ist aber keine unendliche Ressource“, sagt Barbara Engels, Senior Economist für nachhaltige Digitalisierung beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. „Denn die Anzahl der Menschen, die eine Person wahrnehmen und mit denen sie interagieren kann, ist begrenzt. Das gilt auch für Influencer, die ihre Follower teilweise wie Freunde im Alltag begleiten. Mit höchstens 150 Menschen kann eine Person Studien zufolge in regelmäßigem Kontakt bleiben. Verwendet man diese Zahl für den deutschen Influencer-Markt, zeigen sich die Grenzen des Wachstums.“

Barbara Engels, Senior Economist für nachhaltige Digitalisierung beim IW in Köln (Quelle: IW )

Nicht jeder Influencer kann von seiner Arbeit in sozialen Medien leben. Erst ab einer Followerzahl von mindestens 20.000, eher noch 100.000, kann man davon ausgehen, dass ein Influencer damit seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Gäbe es im deutschen Markt nur mittelgroße Influencer mit 20.000 Followern, würde – unter Berücksichtigung der 150er-Regel – die Aufmerksamkeit der deutschen Internetnutzer ausreichen, um 543.000 Influencer im Markt zu halten, schreibt Barbara Engels in einer IW-Studie. Bereits jetzt verdienen laut Umfragen allein 500.000 Menschen der Generation Z ihren Lebensunterhalt als Influencer. Hinzu kommen noch Influencer anderer Generationen, und Influencer aus dem Ausland – unter diesen Annahmen dürfte der Markt als gesättigt angesehen werden.

Gleichzeitig ist die Branche in Bewegung: Neue Influencer gewinnen Follower, ältere verlieren sie, oder zumindest ihre Aufmerksamkeit. Eine längere Karriere als Influencer bestreiten zu können, ist nur den wenigsten vergönnt. Aber: Influencer sind nur ein Teil der Wertschöpfungskette. Unternehmen, die Influencer monetarisieren, ihnen eine Plattform bieten oder an Audio- und Videoinhalten mitarbeiten, sind Teil eines wachsenden Marktes. „Junge Menschen, die sich für eine Karriere als Influencer interessieren, sollten sich bei der Berufswahl eher an den angrenzenden Bereichen wie der IT-Branche orientieren“, rät IW-Digitalisierungsexpertin Barbara Engels. „Die Chancen stehen schlecht, dauerhaft als Influencer Geld zu verdienen.“

Übrigens, nicht dass ich falsch verstanden werde: Ich mag viele Blogs und Vlogs, sie sind oft sehr unterhaltsam und auch nützlich, z.B. wenn Dir jemand erklärt, was in der chinesischen Gebrauchsanleitung steht oder wie man eine Artemide Tizio aus den 70er Jahren auf LED umrüstet. Die Betreiber haben einfach Spaß und vermutlich, wie das Finanzamt sagt, keine Gewinnerzielungsabsicht. Da sind immer nette Sachen dabei, aber ein ernstzunehmender Berufswunsch sollte das in meinen Augen für junge Menschen mit Perspektive auf die Zukunft nicht sein.

Halbherziger Kampf gegen die Kalte Progression

Foto: veit kern / pixelio.de

Ab dem Jahr 2023 will die Ampel die so genannte „Kalte Progression“ ausgleichen und damit nach eigenen Angaben auf Steuer-Mehreinnahmen von rund 14 Milliarden Euro verzichten. Toll. Sollen wir jetzt niederknien angesichts dieser grandiosen und großherzigen Geste aus Berlin? Wohl eher nicht. Denn erstens hat die Kalte Progression schon in diesem Jahr die Steuerzahler stärker bluten lassen, und dafür hat sich die Politik keinen Ausgleich ausgedacht. Zudem ist die Kalte Progression ein permanentes Übel, solange Inflation und nominale Einkommen weiter steigen und die progressiven Tarife bei der Einkommenssteuer nicht regelmäßig angepasst werden.  Besser wäre ein „Tarif auf Rädern“, der sich automatisch an die Lohn- und Preisentwicklung anpasst.  Die Schweiz, die Vereinigten Staaten, Schweden oder Frankreich machen das. Warum wir nicht?

Leute, ich werde das Gefühl nicht los, dass es da draußen jede Menge Trittbrettfahrer gibt, die sich an die Inflation dranhängen und ihre Preise ehöhen, obwohl sie keine gestiegenen Kosten haben. Kann ein Uhrenhändler, der vor vier Jahren seine Armbänder für 9,90 Euro eingekauft und sie bislang für 29 bis 49 Euro verkauft hat, plötzlich 79 Euro verlangen und jammern, dass die Transport- und Energiepreise so rasant gestiegen sind?

Ja er kann offenbar, obwohl es vor vier Jahren keine Energiekrise gab und es deshalb keine sachliche Begründung für seine Preistreiberei gibt. Er gehört damit zu jener Spezies, die die Inflation erst so richtig anheizen und selbst davon profitieren. Und es gibt noch jemanden, der von der Inflation profitiert: Der Staat. Der hat es nämlich überhaupt nicht eilig, etwas gegen die Inflation zu unternehmen, weil sie mehr Steuern in seine Kassen spült.

Immerhin: Ab dem Jahr 2023 will die Ampel diese so genannte „Kalte Progression“ ausgleichen. Damit ist ein Phänomen gemeint, das den Staat durch Nichtstun immer reicher macht. Angenommen, es herrschen in einer Volkswirtschaft fünf Prozent Inflation und die Gewerkschaften haben durchschnittlich fünf Prozent mehr Lohn für alle durchsetzen können – dann hat sich bei den Arbeitnehmern in Bezug auf die Kaufkraft nichts geändert.  Wohl aber das nominale Einkommen. Das ist gestiegen – was bewirkt, dass real konstante Einkommen mit der Zeit in höhere Regionen des Einkommensteuertarifs rutschen und stärker belastet werden.  Außerdem steigt auch die gesamtwirtschaftliche Steuerquote (Steuereinnahmen als Anteil am Bruttoinlandsprodukt) automatisch.

Ab 2023 will die Ampel also für einen Ausgleich sorgen – doch für das Jahr 2022 zahlen  die Steuerzahler bereits jetzt drauf, ohne dass es einen Ausgleich gibt. Das haben Berechnungen des arbeitgebernahen  Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln ergeben. Ein Single mit einem Monatseinkommen von 3.000 Euro wird dadurch um etwa 238 Euro belastet. Um diese Mehrbelastung auszugleichen, greift ab Januar das Inflationsausgleichsgesetz – aber eben erst nächstes Jahr. Darin steht, dass der Staat im Jahr 2023 auf Steuereinnahmen in Höhe von 14 Milliarden Euro durch die kalte Progression verzichtet. Was das für jeden einzelnen bedeutet, hat das IW in einer neuen Studie ausgerechnet.

Wie gesagt: Die Mehreinnahmen durch die kalte Progression, die bereits im Laufe des Jahres 2022 entstehen, gleicht der Staat nicht aus. Und weil die Entlastung im kommenden Jahr nur in Höhe der diesjährigen Belastung ausfällt, verschleppt der Staat den Ausgleich der kalten Progression und sorgt trotzdem jährlich für Mehreinnahmen. „Es gibt sogar Forderungen, die kalte Progression als alternative Finanzierungsmöglichkeit für die Entlastungspakete einzusetzen“, heißt es in einer Pressemitteilung des IW. Und: „Das wäre eine Steuererhöhung durch die Hintertür, die nicht demokratisch legitimiert ist.“

Unter Ökonomen gilt die Kalte Progression deshalb als heimliche Steuererhöhung mit negativen Auswirkungen für Arbeitsanreize. Die Verschiebungen der Steuerlastverteilung und die Ausweitung der Steuerquote sind Automatismen, die sich der demokratischen Kontrolle entziehen. Deshalb ist es aus systematischer Sicht richtig, die Kalte Progression auszugleichen.

Der einfachste Weg, der Kalten Progression zu begegnen, liegt in der Einrichtung eines „Tarifs auf Rädern“, schreibt das IW. Hierbei werden die nominalen Eckwerte des Einkommensteuertarifs automatisch an die Preisentwicklung angepasst. Ein Tarif auf Rädern könnte sicherstellen, dass bei konstanten realen Bruttoeinkommen die reale Steuerbelastung gleich bleibt. Mehrere Länder wie die Schweiz, die Vereinigten Staaten, Schweden oder Frankreich praktizieren das bereits.

Ein Beispiel für variable Tarife sind die Beitragsbemessungsgrenzen für die Sozialversicherungsbeiträge, die sich der Brottolohnentwicklung anpassen. Bei der Einkommensteuer wenden Länder wie die Schweiz, die Vereinigten Staaten, Schweden oder Frankreich diese Methode bereits an. „Mit dem Tarif auf Rädern kann der Staat die Verschiebung der gesellschaftlichen Steuerlast stoppen. Es gibt keinen Grund, sie nicht auch in Deutschland einzuführen“, sagt IW-Ökonom Martin Beznoska. „Bei der derzeit hohen Inflationsrate nimmt der Staat besonders viel zusätzliche Steuern ein.“

Ebbt die Inflationswelle langsam ab?

Foto: Rolf Wenkel 2020

 

Die Zahl der Unternehmen, die demnächst ihre Preise erhöhen wollen, wird langsam kleiner. Das geht aus der aktuellen Umfrage des Münchener Ifo Instituts hervor. Die Preiserwartungen für die kommenden Monate sanken für die Gesamtwirtschaft im Oktober auf 51,5 Punkte, nach 53,8 im September.

Die Punkte bei den ifo Preiserwartungen geben an, wie viel Prozent der Unternehmen per Saldo ihre Preise erhöhen wollen. Der Saldo ergibt sich, indem man vom prozentualen Anteil der Unternehmen, die ihre Preise anheben wollen, den prozentualen Anteil derer abzieht, die ihre Preise senken wollen. Wenn alle befragten Unternehmen beabsichtigten, ihre Preise zu erhöhen, läge der Saldo bei plus 100 Punkten. Würden alle ihre Preise senken wollen, läge er bei minus 100. Der Saldo wurde saisonbereinigt. Das ifo Institut fragt nicht nach der Höhe der geplanten Preisänderung.

Vor allem der Handel und das Verarbeitende Gewerbe planen weniger Anhebungen, während die Preiserwartungen bei den Dienstleistern und im Baugewerbe steigen. „Die Inflationswelle ist noch nicht gebrochen“, sagt ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser. „Vor allem die hohen Energiekosten sind noch nicht vollständig auf die Verbraucher überwälzt.“

Lebensmitteleinzelhändler planen weiterhin kräftige Preiserhöhungen. Dort lagen die Preiserwartungen bei 96,7 Punkten, nach 100,0 im Vormonat. Auch die Bau- und Heimwerkermärkte (85,6) und die Verkäufer von Unterhaltungselektronik (85,4) wollen mehrheitlich ihre Preise anheben. Lediglich beim Handel mit Gebrauchtwagen sind erstmals seit März 2021 leicht sinkende Preise zu erwarten. Dort gingen die Preiserwartungen zurück auf minus 5,8 von plus 25,7 im Vormonat.

Die Unternehmen im Verarbeitenden Gewerbe wollen mehrheitlich ihre Preise anheben. Allerdings ist ihr Anteil im Vergleich zum Vormonat zurückgegangen. In der Chemie sanken die Preiserwartungen von 52,3 auf 33,1 Punkte, in der Papierbranche von 65,3 auf 27,0 Punkte. Besonders hoch sind die Preiserwartungen bei den Herstellern von Bekleidung (83,5), Glaswaren und Keramik (72,1) sowie Nahrungs- und Futtermitteln (70,6). Auch die Dienstleister wollen ihre Preise mehrheitlich anheben. Die Preiserwartungen sind auf 47,0 Punkte gestiegen, von zuvor 45,5. Sehr hoch sind die Preiserwartungen in der Gastronomie mit 80,9 Punkten.

Grafik: Statistisches Bundesamt (Destatis) 2022

Trotz Energiekrise, Inflation und Konsumzurückhaltung ist die Wirtschaftsleistung in Deutschland im dritten Quartal überraschend gewachsen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg gegenüber dem Vorquartal – preis-, saison- und kalenderbereinigt – um 0,3 Prozent, teilte das Statistische Bundesamt am Freitag mit. „Nach dem leichten Anstieg im 2. Quartal 2022 (+0,1 Prozent) hat sich die deutsche Wirtschaft damit weiterhin trotz schwieriger weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen mit anhaltender Corona-Pandemie, gestörten Lieferketten, steigenden Preisen und dem Krieg in der Ukraine behauptet“, heißt es in einer Pressemitteilung der Statistiker. Und: „Die Wirtschaftsleistung im 3.Quartal 2022 wurde vor allem von den privaten Konsumausgaben getragen.“

Im Vorjahresvergleich war das BIP im 3. Quartal 2022 preis- und kalenderbereinigt 1,2 Prozent höher als im 3. Quartal 2021. Im Vergleich zum 4. Quartal 2019, dem Quartal vor Beginn der Corona-Krise, lag das preis-, saison- und kalenderbereinigte BIP im 3. Quartal 2022  mit +0,2 Prozent erstmals oberhalb des Vorkrisenniveaus. Allerdings: „Aufgrund der anhaltenden Corona-Krise und den Folgen des Kriegs in der Ukraine sind diese Ergebnisse mit größeren Unsicherheiten als sonst üblich behaftet“, schreiben die Wiesbadener Statistiker.

DIW: „Wir sind schon in der Rezession“

Grafik: DIW

Das Konjunkturbarometer des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) liegt auch im September deutlich im negativen Bereich: Mit 79,8 Punkten verharrt es weit unter der 100-Punkte-Marke, die für ein durchschnittliches Wachstum der deutschen Wirtschaft steht. Die Energiekrise, hohe Inflationsraten sowie die sich abkühlende Weltwirtschaft verursachen heftigen Gegenwind.

„Deutschland steckt in der Rezession und leider ist momentan kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen“, sagt DIW-Konjunkturexperte Guido Baldi. „Der vom russischen Präsidenten angezettelte Krieg in der Ukraine und seine weitreichenden Folgen dürften 2022 und 2023 zu Wachstumsverlusten in Deutschland von grob geschätzt fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts führen.“

Die enormen Steigerungen bei den Energiepreisen führten zu dramatischen Kaufkraftverlusten und drohten in vielen Unternehmen die Produktion unrentabel zu machen, schreibt das DIW. Darüber hinaus führe der Krieg in der Ukraine in den meisten entwickelten Volkswirtschaften nicht nur zu einer Energiekrise und hohen Inflationsraten, sondern auch zu deutlich geringeren Wachstumsraten oder gar Rezessionen. Die chinesische Wirtschaft wird zudem durch Corona-Lockdowns und die schwelende Immobilienkrise ausgebremst. All dies belastet die exportorientierte deutsche Wirtschaft zusätzlich.

Im Zuge dieser Entwicklung sind die Auftragseingänge für die deutsche Industrie aus dem In- und Ausland rückläufig. Immerhin scheinen sich die bislang hartnäckig haltenden Engpässe in den internationalen Lieferketten allmählich zu entspannen, sodass der immer noch hohe Auftragsbestand effizienter abgearbeitet werden kann. Die Energiekrise entwickelt sich allerdings auch für die deutsche Industrie zum Hauptproblem. „Preissteigerungen für Energie auf der einen und Unsicherheit auf der anderen Seite dämpfen die realen Umsätze und die Geschäftserwartungen,“ sagt Laura Pagenhardt, DIW-Konjunkturexpertin. „Für einige Firmen könnte sich bald die Frage stellen, ob es sich aktuell überhaupt noch lohnt, die Produktion aufrechtzuerhalten.“

Auch die Dienstleistungen befinden sich nach einem Zwischenhoch im Frühjahr nun im Abschwung. Die hohe Inflation dämpft die Kauflust der Haushalte, was sich immer mehr auf die Umsätze etwa im Einzelhandel oder im Gastgewerbe auswirkt. Wenigstens brauchen sich die meisten Menschen angesichts des Fachkräftemangels momentan zumindest keine Sorgen um einen Arbeitsplatzverlust zu machen. Die hohe Teuerung führt aber dazu, dass viele Beschäftigte inflationsbereinigt mit Lohneinbußen konfrontiert sind. Gerade Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen drohen so in finanzielle Schwierigkeiten zu geraten. „Viele Menschen und Unternehmen blicken trotz der bisher beschlossenen Entlastungspakete der Bundesregierung mit großen Sorgen in die Zukunft. Diese berechtigten Ängste bremsen die Konsum- und Investitionsneigung zusätzlich und drohen die Rezession noch weiter zu verschärfen“, sagt Baldi.

Der Branchenverband HDE sieht den Einzelhandel bereits im Dilemma. „Die Kundinnen und Kunden kaufen weniger oder günstiger ein, gleichzeitig steigen die Energiepreise auch für die Betriebe explosionsartig an“, sagte HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. „Die Preissteigerungen einfach so an die Kundendurchzureichen, funktioniert in dieser Lage im harten Wettbewerbnicht.“ Deshalb müsse die Bundesregierung ihre Hilfsprogramme für von den Energiekosten überforderte Firmen rasch anpassen, damit auch Einzelhändler Unterstützung erhalten könnten.

Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK)der Hans-Böckler-Stiftung rechnet für 2023 mit einem Einbruch des privaten Konsums. Die Ausgaben der Haushalte dürften wegen der hohen Inflation um 2,5 Prozent sinken und damit so stark wie seit dem Corona-Jahr 2020 nicht mehr. Auch die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute gehen davon aus, dass Deutschland eine Rezession im Winter nicht verhindern kann. Sie veröffentlichen ihre Gemeinschaftsdiagnose am Donnerstag (29.09.) um 10 Uhr in Berlin. Bereits jetzt ist jedoch durchgesickert, dass die Ökonomen ihre Prognose vom Frühjahr massiv nach unten korrigiert haben. Für dieses Jahr erwarten die Fachleute demnach nur noch ein Wirtschaftswachstum von rund 1,4 Prozent und für 2023 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um etwa 0,4 Prozent.

Die Diagnosen werden zweimal jährlich, jeweils im Frühjahr und im Herbst, erstellt. Der Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose gehören gegenwärtig folgende Wirtschaftsforschungsinstitute an: Das ifo Institut in München in Kooperation mit dem Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo), Wien, das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel), das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), und das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung  in Essen in Kooperation mit dem Institut für Höhere Studien in Wien. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin hat seine Mitarbeit an der Gemeinschaftsdiagnose vorläufig ausgesetzt und wird sich vermutlich erst im Herbst 2023 wieder an der gemeinsamen Diagnose beteiligen.

 

Die Krise als Chance?

fotoART by Thommy Weiss / pixelio.de

Oweh! Wie weit geht’s denn noch runter? Die Stimmung in der deutschen Wirtschaft hat sich deutlich verschlechtert. Der Ifo Geschäftsklimaindex ist im September 2022 auf 84,3 Punkte gefallen, nach 88,6 Punkten im August. Dies ist der niedrigste Wert seit Mai 2020. Dennoch gibt es notorische Optimisten.

Der Rückgang zieht sich durch alle vier Wirtschaftsbereiche wie Industrie, Bau, Handel und Dienstleistungen. Der Pessimismus mit Blick auf die kommenden Monate hat deutlich zugenommen. Im Einzelhandel fielen die Erwartungen sogar auf ein historisches Tief. „Die deutsche Wirtschaft rutscht in eine Rezession“, urteilt das Münchener Ifo-Institut, .das die Stimmung der deutschen Unternehmenslenker alle vier Wochen ermittelt.

Im Verarbeitenden Gewerbe ist der Index spürbar gefallen. Die Unternehmen waren unzufriedener mit den laufenden Geschäften. Sie blicken mit großer Sorge auf das nächste halbe Jahr. Im Dienstleistungssektor ist der Geschäftsklimaindex regelrecht abgestürzt. Die Firmen rechnen zudem mit einer weiteren spürbaren Verschlechterung in den kommenden Monaten, besonders die Gastwirte fürchten erneut schwere Zeiten. Im Handel hat sich das Geschäftsklima ebenfalls verschlechtert. Die Geschäftslage drehte erstmals seit Februar 2021 wieder in den roten Bereich. Auch im Bauhauptgewerbe hat der Index merklich nachgegeben.

Alle Anzeichen deuten also auf eine Abkühlung der Konjunktur, wenn nicht gar auf den Beginn einer Rezession. Auch von der Europäischen Zentralbank sind zurzeit keine Entlastungen zu erwarten – im Gegenteil. Viel zu lange hat sie die Explosion der Energiekosten und die kostentreibenden Störungen der Lieferketten für ein vorübergehendes Phänomen gehalten. Nun steuert sie mit – für EZB-Verhältnisse ungewöhnlich drastIschen – Zinsschritten massiv gegen die Inflation, auch auf die Gefahr hin, die Konjunktur vollends abzuwürgen. Continue reading „Die Krise als Chance?“

Ein Verlierer schlägt um sich

fotoART by Thommy Weiss / pixelio.de.

Diktator Gasputin hat seinen Angriffskrieg auf die Ukraine vermutlich zu spät gestartet, um auf lange Sicht Erfolg zu haben, schreibt ein britischer Professor für Geschichte und internationale Beziehungen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung FAS. Die Überschrift: „Politik eines Verlierers“.

 

Der Brite Harold James ist auf deutsche und europäische Wirtschaftsgeschichte spezialisiert und lehrt an der Princeton University in den USA. Nun haben die USA bislang erfolgreich den Eindruck vermeiden können, sie hätten besonders viel Ahnung von fremden Ländern, Kulturen, Denkweisen. Aber das gilt mehr für ihre Politiker und ihre Politik, z.B. in Ostasien oder im Nahen Osten, nicht aber für ihre Universitäten. Die Einlassungen von Harold James in der FAS finde ich jedenfalls plausibel und hochspannend.

Putin träumt ganz offensichtlich davon, ein russisches Imperium von sowjetischen Ausmaßen wieder zu errichten, vermuten viele Analysten. Harold James sieht darin Parallelen zu den Leitideen des Imperialismus des 19. Jahrhunderts, „den Drang, ein Imperium mit allen Mitteln zu errichten, egal wie brutal und zerstörerisch.“ Zwar kämen jetzt noch die Methoden und Taktiken des KGB hinzu, doch es gehe hier nicht um Putins persönliche Psychopathologie, sondern darum, dass die Konstruktion einer neuen imperialen Wirklichkeit erhebliche Mängel aufweise, schreibt James – und führt fünf dieser Konstruktionsmängel auf.

Harold James (Foto: Adena Stevens / princeton.edu)

Vier dieser Schwächen sind Leckerbissen für Historiker, Philosophen und Psychologen, die fünfte ist eine ökonomische Schwäche, die unmittelbar daran anschließt, was Dr. Hella Engerer vom  Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin in einer kurzen Analyse angemerkt hat (siehe auch https://mmmblog.de/?p=3961 ): „Trotz hoher internationaler Reserven und Profite aus den Energieexporten entwickelte sich die russische Wirtschaft wenig dynamisch. In der längerfristigen Perspektive zeigt sich eine deutliche Wachstumsschwäche der russischen Wirtschaft.“ Obwohl er also die Mittel dazu hatte, sei es Putin nicht gelungen, die Wirtschaft in der Breite zu modernisieren.

Das deckt sich mit der Beobachtung von Professor Harold James – doch der zieht viel weiter reichende Schlüsse daraus. Zu Beginn seiner politischen Vorherrschaft sei Putin die strategische Wette eingegangen, seine natürlichen Ressourcen dazu nutzen – wie die Sowjetunion in den 1970er und 80er Jahren – um Einfluss auszuüben und Abhängigkeiten zu schaffen: „Der entscheidende Fehler Russlands in den 2000er Jahren bestand darin, jeden Gedanken an eine fortschrittliche Industrieproduktion oder eine Strategie der industriellen statt rohstoffbezogenen Ausrichtung aufzugeben“, schreibt James in der FAS.

Diese Strategie sei aber zum Scheitern verurteilt in Zeiten, in denen sogar postsowjetische Staaten wie Kasachstan über Dekarbonisierung nachdenken. Alle Welt denkt darüber nach – nur Russland nicht. Dabei wäre „Gasputin ohne Gas hilflos.“ Klar hat er noch Gas, jede Menge, aber das wird bald keiner mehr haben wollen. „Die Diskussion über das globale CO2-Problem und der Übergang zu globalen Vereinbarungen über die Erderwärmung (von Donald Trump kurzzeitig aufgehalten) entzogen der russischen Langzeitstrategie dann die Grundlage.“

Jedes Möchtegern-Imperium häuft erhebliche wirtschaftliche und finanzielle Ressourcen an, „von denen sie glauben, dass sie sie im Verlauf des unvermeidlichen Konflikts beschützen werden“, schreibt James in der FAS. Das kaiserliche Deutschland legte seine Kriegsreserve in Gold im Juliusturm in Spandau an – genutzt hat es nichts. Putin hat rund 74 Millionen Feinunzen Gold angehäuft, die Ende Januar rund 140 Milliarden Dollar wert waren – nützen wird es ihm nichts, „weil sie nicht leicht bewegt und gehandelt werden können“.

Hinzu kommt, dass die Opposition, so schwach sie auch im Moment zu sein scheint, immer auch mit den Füßen abstimmen und aus dem Rubel fliehen kann – die Schlangen in Moskau, um Dollar zu kaufen, waren unübersehbar. Für Demonstranten sei es gefährlich, auf die Straßen zu gehen, die Oligarchen wagten keinen offenen Widerspruch – aber die jungen Russen würden vermutlich keine Staatsanleihen zur Kriegsfinanzierung zeichnen, weil Anleihen Vertrauen voraussetzen, Vertrauen, das Putin längst verspielt hat, schreibt Harold James.

Die neuen elektronischen Privatwährungen wie Bitcoin und Etherum böten zudem die Möglichkeit, „einen Widerstand auszudrücken und ein finanzielles Vertrauensvotum abzugeben“. Der Anstieg des Bitcoin-Preises sei ein Hinweis auf die dramatische Kapitalflucht aus einem Regime, das seine Glaubwürdigkeit verloren habe. Geld – oder der Mangel daran – könne Imperien zerstören, modernes Geld könne diese Aufgabe sogar noch viel schneller erledigen als früher.

 

Putin wirft die Wirtschaft um Jahre zurück

Das DIW-Portal in der Mohrenstraße (Foto: DIW)

Nach Putins völkerrechtswidrigen Angriff in der Ukraine haben die EU und die USA tiefgreifende Restriktionen im Finanzsektor in Kraft gesetzt, denen sich inzwischen auch die neutrale Schweiz angeschlossen hat. Dass über das SWIFT-Netz die russischen Banken vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten werden, damit hatte Russlands Despot natürlich gerechnet. Aber die Weltgemeinschaft hat noch eine andere Keule ausgepackt, die eine verheerende Wirkung auf Russlands Wirtschaft haben wird: Putins über Jahrzehnte angehäuften Devisenreserven sind praktisch wertlos, denn er kann sie nicht ausgeben.

Mit den Folgen für die russische Wirtschaft beschäftigt sich Dr. Hella Engerer vom  Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin in einer kurzen Analyse. Dort schreibt die Expertin für Ressourcenmärkte und Energiewirtschaft, die gegen die russische Zentralbank ergriffenen Maßnahmen zielten darauf ab, deren Handlungsspielraum durch Einfrieren ihrer Devisenreserven deutlich zu beschränken. Dies sei ein äußerst wirksames Instrument, das in der Geschichte erstmals gegenüber einer großen Volkswirtschaft verhängt wurde und zur Folge habe, dass die russische Zentralbank keinen Zugriff mehr auf einen Großteil ihrer knapp 600 Milliarden US-Dollar umfassenden Währungsreserven hat.

Dr. Hella Engerer (Foto: DIW)

Die Folge: Am Montag den 28. Februar stürzte die russische Währung ab – der Rubel verlor rund ein Drittel seines Wertes. Noch am gleichen Tag erhöhte die russische Zentralbank ihren Leitzins auf 20 Prozent, um den weiteren Währungsverfall zu stoppen. Doch dieses klassische Instrument zur Stützung einer Währung hat eine äußerst unangenehme Nebenwirkung: Geld wird für Unternehmen so teuer, dass sich keine Investition mehr lohnt, die Wirtschaft wird abgewürgt.

In der DIW-Analyse wird das so beschrieben: „Diese Zinserhöhung trifft eine ohnehin schon wachstumsschwache Volkswirtschaft, die es bislang versäumt hat, ihre starke Abhängigkeit von der Produktion fossiler Energieträger zu reduzieren.“

Die internationalen Reserven Russlands beliefen sich zum Ende des Jahres 2021 auf 630 Milliarden US-Dollar. „Rein rechnerisch könnte das Land damit seine Importe für etwa zwei Jahre decken“, heißt es in der DIW-Analyse von Hella Engerer. Die hohen Reserven hätte Putin nutzen können, um seine (Kriegs-)Wirtschaft zu finanzieren und Sanktionen auszusitzen. Doch daraus wird jetzt nichts, schreibt Engerer: „Dieses Kalkül wird angesichts der Restriktionen gegen die russische Zentralbank nicht aufgehen.“

Die USA, die Europäische Union, Großbritannien und die Schweiz haben beschlossen, russische Devisenbestände, die sich auf Konten in diesen Ländern befinden, einzufrieren und damit dem Zugriff der russischen Zentralbank zu entziehen. Die russische Zentralbank hat zuletzt im Juni 2021 nähere Angaben zur Zusammensetzung ihrer Reserven veröffentlicht, die damals 585,3 Milliarden Dollar umfassten. So sind die Devisenreserven sind vorwiegend in Euro, US-Dollar, britischem Pfund und weiteren westlichen Währungen angelegt. Aber auch die Position des chinesischen Renminbi haben die russischen Zentralbanker ausgebaut.

Die geographische Verteilung zeigt laut DIW ein hohes Gewicht europäischer Länder. Seit Mitte letzten Jahres sind die internationalen Reserven nochmals deutlich gestiegen; es wurden wahrscheinlich weitere Umschichtungen vorgenommen. „Dennoch dürften aktuell unter Einschluss der europäischen Länder, der USA, Kanadas und Japans wohl ein Großteil der Devisenreserven dem Zugriff der russischen Zentralbank entzogen sein“, urteilt das DIW. Zudem wird diskutiert Russland daran zu hindern, die Sonderziehungsrechte beim Internationalen Währungsfonds einzulösen. Auf die chinesischen Bestände hingegen dürfte die russische Zentralbank weiterhin zugreifen können. Zudem verfügt sie über Goldreserven in Höhe von 132 Milliarden US-Dollar, die sie aber kaum kurzfristig und in hohem Volumen auf internationalen Märkten veräußern kann. „Der Handlungsspielraum der russischen Zentralbank ist insgesamt deutlich enger geworden“, schreibt das DIW.

Generiert wurden die hohen russischen Devisenreserven vor allem durch den Export fossiler Energieträger. Lange Zeit lag das Exportvolumen auf hohem Niveau und die Ölpreise sicherten hohe Erlöse. Damit Schwankungen des Ölpreises nicht zu stark auf die inländische Wirtschaft durchschlagen, hat Russland bereits 2004 einen Staatsfonds aufgelegt, der – nach mehreren Umstrukturierungen – heute als „Nationaler Wohlstandsfonds“ bezeichnet wird. In diesen werden die Rohölexporterlöse teilweise eingespeist. Auch die Einlagen in diesem Fonds sind noch vor der Corona-Pandemie deutlich erhöht worden.

Indes: „Trotz hoher internationaler Reserven und Profite aus den Energieexporten entwickelte sich die russische Wirtschaft wenig dynamisch. Vor der Corona-Pandemie wurden jährliche Wachstumsraten realisiert, die unter denen anderer aufstrebender Volkswirtschaften lagen“, schreibt das DIW. Und weiter: „In der längerfristigen Perspektive zeigt sich eine deutliche Wachstumsschwäche der russischen Wirtschaft. Trotz hoher Exporterlöse ist es nicht gelungen, die Wirtschaft in der Breite zu modernisieren. Dabei ginge es insbesondere darum, den dringend notwendigen Strukturwandel endlich einzuleiten – weg von der Rohstoffproduktion und hin zu Hoch- und Schlüsseltechnologien. Damit bleibt die russische Wirtschaft im internationalen Vergleich wenig wettbewerbsfähig. Eine Modernisierung aus eigener Kraft wird kaum gelingen.“

Download der Studie: https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.836694.de/diw_aktuell_79.pdf

 

 

Rottet sich die AfD selbst aus?

Grafik: Tim Reckmann / pixelio.de

 

 

Eine bereits länger gefühlte Wahrheit ist jetzt wissenschaftlich dingfest gemacht: Es ist kein Zufall, dass in AfD-Hochburgen auch die Corona-Inzidenzen überdurchschnittlich sind, berichtet die Katholische Nachrichten-Agentur KNA. 

 

Durch die Auswertung von umfangreichem Datenmaterial haben Forscher aus Jena und München nachgewiesen: Der AfD-Zweitstimmenanteil hat “signifikante Effekte“ auf die regionalen Anstiege der Corona-Infektionszahlen in den ersten beiden Wellen. Signifikant heißt in der Wissenschaft: Nicht mehr durch den Zufall erklärbar.

Als Grundlage für die Studie dienten die Wahlergebnisse und Nichtwähleranteile der letzten Bundestagswahlen sowie die Daten zum Infektionsgeschehen im vergangenen Jahr in allen 401 deutschen Kreisen und kreisfreien Städten. Die Forschungsarbeit stellt fest: Die durchschnittliche Infektionshöhe in der ersten Pandemiewelle ist dort um 2,2 Prozentpunkte erhöht, wo das Wahlergebnis der AfD um einen Prozentpunkt ansteigt.

„Damit liegt statistisch die Infektionshöhe in einem Kreis mit 20 Prozent AfD-Zweitstimmenanteil circa 22 Prozentpunkte über einem Kreis mit einem Stimmenanteil von lediglich 10 Prozent“, erklärt der Soziologe und Mitautor der Studie, Christoph Richter. Dies gelte für West- und Ostdeutschland gleichermaßen. Andere Erklärungen schlossen die Autoren aus.

Denn die Wissenschaftler vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Jena, die dem Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt angehören, und vom Helmholtz Zentrum München zogen auch weitere soziostrukturelle Variablen wie die wirtschaftliche Situation, Mobilität, Grenznähe, Lebenserwartung und Altersstruktur in ihre Untersuchungen ein. Jedoch keiner dieser insgesamt 48 Faktoren lieferte eine alternative Erklärung.

Steigende Corona-Zahlen ließen sich auch im Zusammenhang mit rechtsextremen Kleinstparteien und Nichtwähler-Anteilen beobachten. Ein ähnlicher Effekt konnte jedoch nicht für die anderen im Bundestag vertretenen Parteien ausgemacht werden.

Schon im Sommer wies eine Studie der TU Dresden in eine ähnliche Richtung. Sie befasste sich mit der Pandemie in Sachsen. Ein besonders hohes Maß an Ablehnung der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie lasse sich vor allem bei AfD-Sympathisanten finden. Sie neigten zudem überdurchschnittlich oft dazu, sich nicht impfen lassen zu wollen.

Die Arbeit der TU legte zudem offen, dass “pandemieskeptische Einstellungen und ein Corona-bezogenes Verschwörungsdenken“ verbreitet bei jenen Personen sind, die mit der AfD sympathisieren. Auch die Jenaer Wissenschaftler verwiesen im Blick auf andere Forschungsarbeiten darauf, dass rechtspopulistische und rechtsextreme Einstellungen und Verschwörungsglauben “stark“ miteinander korrelieren. Dies zeige sich unter anderem in einer Skepsis bis hin zur offenen Ablehnung derjenigen demokratischen Institutionen, die Entscheidungsrelevanz in der Pandemie besäßen.

Das Feindbild der eigenen Regierung ist das Narrativ, dessen sich auch die AfD bedient. Die Forscher vom IDZ bescheinigen der Partei eine “beachtliche inhaltliche Kehrtwende“ in ihrer Corona-Politik. Bis April 2020 noch forderte sie Grenzschließungen und effektivere Schutzmaßnahmen. Es folgte der Ruf nach sofortiger Beendigung der Maßnahmen. Die AfD zielte “auf die Delegitimierung demokratischen staatlichen Handelns und beförderte die in der Pandemie aktualisierten Anti-Establishment-Haltungen“, beschreiben die Autoren.

Ihre Studie galt der ersten und zweiten Pandemie-Welle. Ausgehend von den Ergebnissen sei anzunehmen, dass rechte Einstellungen jedoch auch bei der aktuellen vierten Welle und einer mangelnden Impfbereitschaft verstärkt auf die Pandemie einwirkten. Bei der Bundestagswahl 2021 kam die AfD in Sachsen auf 24,6 Prozent der Zweitstimmen. In der vergangenen Novemberwoche überschritt die Inzidenz im Freistaat die Tausendermarke. In beiden Fällen führt das Bundesland die Statistik an.

Führende AfD-Vertreter wie etwa die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel brüsten sich geradezu damit, nicht geimpft zu sein und nutzen dies auch zur politischen Instrumentalisierung. Sie werde die Interessen der Ungeimpften und derer, die sich diskriminiert fühlten, im Bundestag “bis zum Ende vollumfänglich vertreten und sie verklagen und jagen, bis es nicht mehr weitergeht“.

Als das Erzbistum Berlin bekanntgab, dass für die Gottesdienste in der Advents- und Weihnachtszeit weitgehend 2G-Auflagen gelten sollten, warf die Brandenburger AfD der Kirche prompt vor, sie diskriminiere damit die Ungeimpften. An ihre Zielgruppe gewandt sagte die kirchenpolitische Fraktionssprecherin Kathleen Muxel: “Wer an den Herrn glaubt, sollte sich vor der Plage Corona nicht ängstigen.“

Nix wissen, aber über die Demokratie lästern

Foto: Rolf Handke / pixelio.de)

 

Wer überwiegend oder gar ausschließlich das Internet oder die so genannten Sozialen Medien nutzt, um sich über ökonomische oder soziale Sachverhalte in Deutschland zu informieren, der liegt oft krass daneben. Das gilt besonders AfD-Anhänger, die klassischen Medien misstrauen und Facebook, Twitter und Co. für seriöse Quellen halten.

 

Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat gemeinsam mit der Ruhr-Universität Bochum über 1.000 Menschen befragt, um herauszufinden, wie gut sie soziale und wirtschaftliche Kennzahlen zu Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Erneuerbare Energien und Verkehrstoten einschätzen können.

Die Studie hat den etwas sperrigen Titel: „Selektiver Medienkonsum und sozioökonomisches Unwissen: Ein Katalysator für Unzufriedenheit?“ Ein Ergebnis: Wer sich überwiegend oder ausschließlich im Internet tummelt, schätzt Altersarmut, Kriminalität oder Arbeitslosigkeit besonders hoch ein – während Konsumenten klassischer Medien wie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder überregionaler Zeitungen mit ihren Schätzungen oft besser abschneiden.

Wie viele Menschen sind in Deutschland von Armut bedroht? Im Schnitt schätzen die Bundesbürger diesen Anteil auf 35 Prozent. Doch tatsächlich lag die Armutsgefährdungsquote im Jahr 2019 laut Mikrozensus bei rund 16 Prozent. Gefragt nach der Arbeitslosenquote in Deutschland  tippen die Befragten im Durchschnitt auf 23 Prozent, obwohl sie zum Zeitpunkt der Befragung bei rund sechs Prozent lag.

Noch gravierender ist der Unterschied, wenn nach der Arbeitslosenquote ausländischer Mitbürger gefragt wird: Im August 2020 lag sie bei 15,6 Prozent, doch die Teilnehmer der Studie schätzen sie im Schnitt auf 41 Prozent. Auch bei den Themen Altersarmut und Kriminalität schätzen die Befragten die Realität pessimistischer ein als sie die amtliche Statistik zeigt. „Unsere Untersuchung zeigt, dass Befragte mit starken Fehleinschätzungen eher unzufrieden mit der Demokratie in Deutschland, der sozialen Gerechtigkeit und dem sozialen Sicherungssystem sind“, sagt Studienautorin Judith Niehues laut Pressemitteilung des IW.

Dr. Judith Niehues, Leiterin der Forschungsgruppe Mikrodaten und Methodenentwicklung (Foto: IW)

Wer sich vor allem in klassischen Medien wie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder in überregionalen Zeitungen über politische Themen informiert, schneidet oft besser ab als jemand, der politische Informationen vorrangig über Soziale Medien beziehet, ist ein Ergebnis der Studie.

Zudem fällt auf, dass Fehleinschätzungen im Bereich Altersarmut, Entwicklung von Kriminalität und Arbeitslosigkeit von Ausländern bei Anhängern der AfD besonders hoch ausfallen – gleichzeitig informieren sie sich besonders häufig in Sozialen Medien. Während unter den übrigen Befragten 24 Prozent ihre Nachrichten vorrangig in Sozialen Medien konsumieren, sind es unter den AfD-Anhängern knapp 42 Prozent.

„Anhand der Auswertung wird deutlich, dass ökonomische Bildung das Potential hat, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Vertrauen in die Demokratie zu stärken“, sagt Bodo Hombach, Vorsitzender der privaten Brost-Stiftung in Essen, die diese Befragung gefördert hat. „Zudem sollte die digitale Souveränität gefördert werden, denn Quellenkompetenz wird vor dem Hintergrund der neuen Medienlandschaft immer wichtiger.“

Hier geht’s zum Download der Studie

Und hier geht’s zur Brost-Stiftung

 

Mehr Covid-Infekte durch Querdenker

Das Titelblatt der Studie Quelle: ZEW

Heute bin ich auf eine Pressemitteilung des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung ZEW gestoßen, die ich für bemerkenswert halte: Die „Querdenker“-Demos im November 2020 haben dazu beigetragen, dass sich das Corona-Virus innerhalb Deutschlands stark verbreitet hat, zeigt eine aktuelle Studie des ZEW und der Humboldt-Universität zu Berlin. Untersucht wurde, wie sich die zwei großen „Querdenken“-Kundgebungen im November 2020 auf die Sieben-Tage-Inzidenz bis Ende Dezember ausgewirkt haben. Ich bin ehrlich: Mein Mitleid mit denen, die sich dort infiziert haben, hält sich in Grenzen.

Untersucht wurde das Infektionsgeschehen in den Landkreisen, aus denen zehntausende Demonstranten zu den Kundgebungen am 7. November 2020 in Leipzig und am 18. November 2020 in Berlin anreisten. Um diese Orte zu bestimmen, nutzen die Autoren der Studie Informationen über das Angebot von Busreisen eines Netzwerks von Busunternehmen, das sich seit Sommer 2020 auf die Beförderung von Demonstranten zu den „Querdenken“-Kundgebungen spezialisiert hat.

So stieg die Sieben-Tages-Inzidenz nach den Demonstrationen deutlich stärker in Landkreisen an, die Städte mit einer solchen Busverbindung beinhalten, als in Landkreisen ohne solche Busverbindungen. Dies hatte bis Weihnachten einen Anstieg der Sieben-Tage-Inzidenz um 40 in den betroffenen Landkreisen zur Folge.

Die Wissenschaftler schätzen, dass bis Weihnachten zwischen 16.000 und 21.000 Covid-19-Infektionen hätten verhindert werden können, wenn diese beiden großen „Querdenker“-Kundgebungen abgesagt worden wären. „Die Analyse von ZEW und Humboldt-Universität quantifiziert somit erstmals den Zielkonflikt zwischen der Einschränkung von Freiheitsrechten und gesundheitspolitischen Maßnahmen zum Infektionsschutz“, heißt es in einer am 09.02.2021 veröffentlichten Pressemitteilung des ZEW.

Das individuelle Verhalten – wenn Personen beispielsweise entgegen der geltenden Regeln keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen oder Abstandsregeln missachten – kann laut ZEW-Analyse große Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit haben. „Eine mobile Minderheit, die sich nicht an geltende Hygieneregeln hält, kann so ein erhebliches Risiko für andere Personen darstellen“, sagt der ZEW-Wissenschaftler und Koautor der Studie, Martin Lange.

Das ZEW in Mannheim forscht im Bereich der angewandten und politikorientierten Wirtschaftswissenschaften und stellt der nationalen und internationalen Forschung wichtige Datensätze zur Verfügung. Das Institut berät Politik, Unternehmen und Verwaltung auf nationaler und europäischer Ebene. Es untersucht vor allem, wie Märkte und Institutionen gestaltet sein müssen, um eine nachhaltige und effiziente wirtschaftliche Entwicklung der wissensbasierten europäischen Volkswirtschaften zu ermöglichen. Das ZEW wurde 1991 gegründet. Es ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Derzeit arbeiten am ZEW Mannheim rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von denen rund zwei Drittel wissenschaftlich tätig sind.

Hier geht es zum Download der Studie