Deutschland: Bald kaputt, aber schuldenfrei

Die Kritiker der Schuldenbremse erhalten Unterstützung von unerwarteter Seite. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) schlägt neuerdings vor, die im Grundgesetz verankerte Regel zu überarbeiten.

 

„Ziel der Schuldenbremse ist es, die Tragfähigkeit der deutschen Staatsfinanzen zu sichern. In ihrer aktuellen Ausgestaltung ist die Schuldenbremse allerdings starrer, als es für die Aufrechterhaltung der (Schulden-)Tragfähigkeit in Deutschland notwendig wäre“, heißt es in einem zwölfseitigen so genannten Policy Brief der so genannten Wirtschaftsweisen. „Vor dem Hintergrund der Klarstellung des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung der Schuldenbremse und der daraus resultierenden stärkeren fiskalpolitischen Einschränkungen im Anschluss an eine Notlage sollte eine Reform der Schuldenbremse in Betracht gezogen werden“, schlagen die Wirtschaftsprofessorinnen und -professoren Veronika Grimm, Ulrike Malmendier, Monika Schnitzer, Achim Truger und Martin Werding vor.

„Die Schuldenbremse, wie sie jetzt ist, ist zu starr“, sagt die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, die Münchener Ökonomin Monika Schnitzer. „Wir wollen die Flexibilität erhöhen und Spielräume schaffen, sodass man zukunftsorientierte öffentliche Ausgaben tätigen kann, ohne dabei die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen auszuhöhlen.“ Die Schuldenbremse schreibt vor, dass die Länder in wirtschaftlich normalen Jahren ohne neue Kredite auskommen müssen, und dem Bund wird ein eine Verschuldungsspielraum von 0,35 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung zugestanden.

Unter Ökonomen ist man sich weitgehend einig: Diese Regelung ist viel zu unflexibel. Sie verhindert die Aufnahme dringend benötigter Kredite, um den klimagerechten Umbau des Landes, die Digitalisierung und die Instandhaltung der Infrastruktur nachhaltig anzugehen. Vor allem die SPD-Bundestagsfraktion dringt deshalb auf eine grundlegende Reform. Dass sie nun zumindest im Prinzip Rückendeckung vom Sachverständigenrat erhält, war angesichts früherer Stellungnahmen des Expertengremiums so nicht zu erwarten. „Allerdings verändert sich auch die Besetzung des Rats immer wieder“, heißt es in der Süddeutschen Zeitung.

„Eine pragmatische Reform könnte (…) die Flexibilität der Fiskalpolitik erhöhen, ohne die Stabilität zu gefährden“, schreiben die Wirtschaftsweisen in ihrem Policy Brief. Erstens sollte eine Übergangsphase in den Jahren unmittelbar nach einer Anwendung der Ausnahmeklausel der Schuldenbremse eingeführt werden. In dieser Phase dürfte die zulässige Neuverschuldung weiterhin über der normalen Regelgrenze liegen, müsste aber stetig reduziert werden.

Unmittelbar nach Ende des Jahres, für das eine Notlage festgestellt wurde, gelten nämlich wieder die alten Regelgrenzen, wenn nicht erneut die Notlage ausgerufen werden kann. Dies ist jedoch nur möglich, wenn es weiterhin eine erhebliche Belastung des Bundeshaushalts durch die Krisensituation gibt. „Krisen haben jedoch oft auch dann noch spürbare Auswirkungen, wenn ihre primäre Ursache bereits überwunden ist. Der zur Einhaltung der Schuldenbremse notwendige Konsolidierungsbedarf könnte für eine noch schwächelnde Wirtschaft unnötig starke, negative Impulse setzen“, zitieren sich die Wirtschaftsweisen selbst aus ihrem Jahresgutachten von 2021. Zudem bestünde ein wichtiges Instrument der Krisenbekämpfung darin, Erwartungen zu stabilisieren und wirtschaftlichen Akteuren Planungssicherheit zu geben. „Dazu können auch nach dem unmittelbaren makroökonomischen Schock fiskalische Spielräume nötig sein“, argumentieren die Fünf Weisen.

Als zweites schlagen die Sachverständigen vor, die starre Bremsregel von 0,35 Prozent des BIP flexibler zu gestalten – und zwar nicht willkürlich, sondern immer in Relation zum Gesamtschuldenstand. „Die Regelgrenze könnte so ausgestaltet werden, dass bei geringerer Schuldenstandsquote höhere strukturelle Defizite als bisher, bei höherer Schuldenstandsquote weiterhin nur die bisherigen Defizite zulässig sind“. So sollte der Bund die Regelgrenze anheben dürfen, wenn die Staatsschuldenquote insgesamt vergleichsweise niedrig ist. Machen die Gesamtverbindlichkeiten gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) weniger als 60 Prozent aus, soll die Neuverschuldungsgrenze statt bei 0,35 bei einem Prozent des BIP liegen dürfen. Bei Quoten zwischen 60 und 90 Prozent wären 0,5 Prozent erlaubt.

Laut Statistischem Bundesamt lag die Gesamtverschuldung im vergangenen Jahr bei 64,4 Prozent des BIP. Damit wäre – übrigens auch nach EU-konformen Regeln – eine Nettoneuverschuldung von einem Prozent des BIP möglich, als fast eine Verdreifachung des möglichen Spielraums für kreditfinanzierte Investitionen. Kommentar eines Lesers der Süddeutschen Zeitung: „Na – das war jetzt aber mal eine schwere Geburt, die Einsicht, dass es keinen Sinn macht, den Kindern einen schuldenfreien Haushalt aber ein kaputtes Land zu hinterlassen.“

 

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