Die Große Koalition hat für Anfang November eine Halbzeitbilanz angekündigt, um zu überprüfen, welche Vorhaben auf dem richtigen Weg sind und wo nachgebessert werden muss. Wer so etwas vollmundig ankündigt, der muss sich nicht wundern, wenn auch Andere sich bemüßigt fühlen, Bilanz zu ziehen – die Presse, die Opposition, die Wirtschaft und ihre Lobbyverbände zum Beispiel. Diese Bilanzen könnten dann im Zweifel sogar objektiver und damit auch glaubwürdiger ausfallen, denn das Personal, das die jeweilige Regierung stellt, ist noch nirgendwo auf der Welt durch große Selbstkritik aufgefallen – Eigenlob ist da eher die Regel.
Die Kritik übernehmen dafür gerne Andere – zum Beispiel das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. So sieht IW-Direktor Michael Hüther die Koalition in einem absoluten Stillstand. Sie habe zwar immer wieder versucht, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, wie zum Beispiel beim Klimapaket, sie erliege aber kontinuierlich schwerwiegenden Denkfehlern. „Der gravierendste ist der Glaube, dass sich Deutschland ohne ein massives Investitionsprogramm zukunftsfähig machen lässt. In Zeiten, in denen der Realzins unter der Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts verharrt, lassen sich öffentliche Investitionen via Kredit finanzieren. Der Bedarf ist gegeben: Bildung, Dekarbonisierung, Digitalisierung, Wohnen und Verkehr lauten die Themen. Dafür benötigen wir 450 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren, finanziert und abgesichert gegen Umschichtungen in den Haushalten über einen Deutschland-Fonds.“
Forderungen nach mehr Schulden kannte man lange Zeit eher von linken Ökonomen. Dass auch ein wirtschaftsnaher Experte wie Hüther eine Abkehr von der Schwarzen Null fordert, zeigt, wie groß der Druck auf die Bundesregierung inzwischen ist. Auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, oder der Düsseldorfer Wirtschaftsprofessor Jens Südekum kritisieren die Schwarze Null.
Immer mehr Ökonomen halten also die Schwarze Null für einen Bremsklotz. Neuerdings bekommen sie durch einen hochrangigen Beamten im Finanzministerium Unterstützung: Chefökonom Jakob von Weizsäcker hat innerhalb des Ministeriums eine Debatte angestoßen, die das Diktat der Schwarzen Null in Frage stellt. Statt Haushaltsdisziplin betont von Weizsäcker, wie wichtig Investitionen für den langfristigen Wohlstand Deutschlands seien. Auch er ist überzeugt: Dank anhaltend niedriger Zinsen könnten langfristige Investitionen nun leichter finanziert werden.
Deutschlands Wirtschaft steckt nach einigen wirklich fetten Jahren in den ersten Zügen einer Rezession. Da wirkt ein sklavisches Festhalten an einer zum Selbstzweck mutierten Maxime eher schädlich. Wenn der Fiskus in schlechten Zeiten immer noch unbedingt mehr einzunehmen als auszugeben versucht, versäumt er das rechtzeitige Gegensteuern, um die Folgen einer Rezession zu verhindern. Im Gegenteil: Eine Sparpolitik in schlechten Zeiten verschlimmert die Folgen einer Rezession, statt sie abzufedern.
„Vielleicht wäre jetzt auch der Moment, die Lehre aus dem aktuellen deutschen Mix aus vermeintlich (noch) tollen Staatsfinanzen und desolatem Zustand von Straßen und Schulen und sonstigen öffentlichen Einrichtungen zu ziehen. Und mal wieder mehr auszugeben als einzunehmen“, schreibt der Spiegel-Online Kolumnist Thomas Fricke , „weil alles andere in Rezessionszeiten ohnehin wenig bringt und für unsere Zukunft eher schlechter wäre.“
Übrigens – was Viele nicht wissen: Der Bund kann sich auch ohne Notsituation oder Konjunkturflaute jährlich mit 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschulden, ohne gegen das Verschuldungsverbot im Grundgesetz zu verstoßen. Der Verzicht auf Schuldenaufnahmen in Normalzeiten ist deshalb eine unnötige Verschärfung dessen, was das Grundgesetz eigentlich vorschreibt.
„Das ist – rein ökonomisch betrachtet – ein ziemlicher Irrsinn“, urteilt Mathias Brodkorb auf Cicero Online über die Politik seines Parteigenossen Olaf Scholz. Brodkorb war Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern und gehört der SPD an. Er weist darauf hin, dass der Staat derzeit selbst bei Krediten mit einer Laufzeit von zehn oder 20 Jahren annähernd Null-Zinsen, teilweise sogar negative Zinsen erzielen kann. „Wann, wenn nicht jetzt, sollte der Staat also in die Vollen gehen und die wirtschaftlich relevante Infrastruktur modernisieren, quasi für lau?“ Die Investitionen würden Wachstum auslösen und dieses Wachstum höhere Steuereinnahmen zur Folge haben, aus denen sich Zins und Tilgung spielend bedienen ließen.
Trotzdem verteidigt Brodkorb die Politik seines Parteikollegen Scholz – weil er seiner eigenen Kaste, den Politikern, misstraut: „Sieht man sich die Bundeshaushalte der vergangenen Jahre an, so ist von einer intensiven Belebung der Investitionstätigkeit ziemlich wenig zu spüren. Stattdessen werden vor allem „Wohltaten“ verteilt und konsumtive Ausgaben in die Höhe getrieben. Höchst unwahrscheinlich also, dass in diesem Umfeld bei Preisgabe der schwarzen Null tatsächlich in die Zukunft des Landes investiert würde. Dafür sind die Verlockungen viel zu groß. Stattdessen würde eher die Büchse der Pandora geöffnet.“
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